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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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spät alt zu werden?
    Erzieherin. In seiner Jugend vernünftig leben.
    Die Kleine. Dann werde ich beständig vernünftig leben.
    Erzieherin. Um so besser für dich. Glaubst du dann aber wirklich ewig leben zu können?
    Die Kleine. Wenn ich recht, recht alt werde…
    Erzieherin. Nun, dann?
    Die Kleine. Ach, wenn man so alt ist, muß man, wie Sie sagen, sterben.
    Erzieherin. So wirst du also auch einmal sterben?
    Die Kleine. Leider! Ja.
    Erzieherin. Wer lebte aber vor dir?
    Die Kleine. Mein Vater und meine Mutter.
    Erzieherin. Und wer lebte wieder vor ihnen?
    Die Kleine. Ihr Vater und ihre Mutter.
    Erzieherin. Wer wird nach dir leben?
    Die Kleine. Meine Kinder.
    Erzieherin. Und wer wird wieder nach diesen leben?
    Die Kleine. Ihre Kinder.
    u. s. w. u. s. w.
    Wenn man diesen Weg innehält, so findet man durch überzeugende Schlüsse, wie bei allen Dingen, so auch bei dem menschlichen Geschlechte einen Anfang und ein Ende, d. h. einen Vater und eine Mutter, welche weder Vater noch Mutter gehabt haben, und Kinder, welche keine Kinderhaben werden. [10] Erst nach einer langen Reihe ähnlicher Fragen ist die erste Frage des Katechismus hinreichend vorbereitet; nun erst kann man sie stellen und das Kind sie verstehen. Welch ein ungeheurer Sprung ist nun aber von da ab bis zur zweiten Frage, welche gleichsam eine Definition des göttlichen Wesens gibt! Wann wird diese Kluft ausgefüllt werden? Gott Ist ein Geist! Was ist denn nun ein Geist? Soll ich den kindlichen Geist sich etwa in das dunkle Gebiet der Metaphysik hinauswagen lassen, aus dem sich selbst die Männer nur mit äußerster Mühe wieder herauszufinden vermögen? Es ist nicht die Aufgabe eines kleinen Mädchens, diese Fragen zu lösen, ihr kommt es höchstens zu, sie zu stellen. In diesem Falle würde ich der Kleinen ganz einfach erwidern: »Du fragst mich, was Gott ist. Das ist nicht leicht zu erklären. Man kann ihn nicht hören, nicht sehen und nicht fühlen; nur an seinen Werken kann man ihn erkennen. Um dir eine richtige Vorstellung von dem machen zu können, was er ist, mußt du zuvor lernen, was er gethan hat.«
    Können unsere Glaubenssätze auch alle auf die gleiche Wahrheit Anspruch machen, so sind sie deshalb noch nicht von gleicher Wichtigkeit. Für die Ehre Gottes ist es höchst gleichgültig, ob wir sie an allen Dingen zu erkennen fähig sind. Dagegen ist es für die menschliche Gesellschaft so wie für jedes ihrer Glieder wichtig, daß jeder Mensch die Pflichten, deren Beobachtung ihm das Gesetz Gottes gegen seinen Nächsten und sich selbst auferlegt, kenne und erfülle. Das ist es, was wir einander unaufhörlich vorhalten müssen; das ist es vor Allem auch, worüber Väter und Mütter ihre Kinder zu belehren verpflichtet sind. Ob eine Jungfrau die Mutter ihres Schöpfers ist, ob sie Gott oder nur einen Menschen geboren hat, mit welchem Gott sich erst vereinigt, ob Vater und Sohn gleichen oder nur ähnlichen Wesens sind, ob der heilige Geist von einem dieser Beiden, die einander gleich sind, oder von Beiden gemeinschaftlichausgeht: das sind Fragen, die dem Anscheine nach allerdings wesentlich sind, deren Entscheidung aber meiner Ansicht nach für das menschliche Geschlecht nicht wichtiger ist, als zu wissen, an welchem Datum man Ostern feiern muß, ob man den Rosenkranz beten, fasten, sich des Fleisches enthalten, im Gotteshause sich der lateinischen oder der Muttersprache bedienen, ob man Heilige verehren, die Messe lesen oder hören soll, und ob man als Geistlicher heirathen darf. Möge ein Jeder darüber denken, wie ihm beliebt; ich begreife nicht, wie dies Andere interessiren kann; ich für meinen Theil habe nicht das geringste Interesse daran. Was aber für mich wie für alle meine Mitmenschen von höchster Wichtigkeit sein muß, ist, daß Jedermann wisse, es gibt einen Lenker der menschlichen Geschicke, dessen Kinder wir allesammt sind, welcher uns Allen befiehlt, gerecht zu sein, uns unter einander zu lieben, wohlthätig und barmherzig zu sein, unseren Verpflichtungen gegen Jedermann, selbst gegen unsere und seine Feinde, nachzukommen; daß das scheinbare Glück dieses Lebens nichtig ist; daß es nach diesem irdischen Leben ein anderes gibt, in welchem das höchste Wesen die Guten belohnen und die Bösen bestrafen wird. Es hängt viel davon ab, daß die Jugend in diesen und ähnlichen Dogmen unterrichtet und alle Bürger von ihrer Wahrheit überzeugt werden. Wer sie bekämpft, verdient unzweifelhaft Strafe; er ist unstreitig ein Störer der

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