Emil oder Ueber die Erziehung
Geschmack und Geist, alle Beide beseelt der gleiche Wunsch, ihre Gäste freundlich aufzunehmen und zufrieden scheiden zu sehen. Der Mann läßt nichts außer Acht, um sich in jedem Punkte als aufmerksamer Wirth zu beweisen. Er geht, kommt, macht die Runde und ist unaufhörlich bemüht. Er möchte ganzAufmerksamkeit sein. Die Frau verläßt ihren Platz nicht. Ein kleiner Kreis versammelt sich um sie und scheint ihr den Ueberblick über die übrige Gesellschaft zu entziehen. Trotzdem ereignet sich nichts, was sie nicht wahrnimmt, Niemand entfernt sich, mit dem sie nicht gesprochen hat. Sie hat nichts vergessen, was für Jeden von Interesse sein könnte. Sie hat Jedem nur etwas Angenehmes gesagt, und ohne gegen die gesellschaftliche Ordnung zu verstoßen, hat sie den Geringsten in der Gesellschaft eben so wenig vergessen als den Ersten. Es ist aufgetragen und man nimmt bei Tische Platz. Der Mann setzt die Gäste nach seiner Kenntniß so, wie sie zu einander passen. Selbst wenn der Frau diese Kenntniß abgehen sollte, wird sie sich doch niemals irren; sie hat schon aus den Blicken und dem Benehmen der Einzelnen Alles herausgelesen, was sie mit einander übereinstimmend haben, und Jeder hat einen Platz erhalten, der seinem eigenen Wunsche entspricht. Ich hebe es gar nicht erst hervor, daß bei der Aufwartung Niemand übersehen wird. Da der Herr ja selbst die Runde macht, ist es ihm unmöglich gewesen, Jemanden zu übersehen. Allein die Frau erräth schon, wonach Jeder besonderes Verlangen trägt, und bietet es ihm an. Obwol sie mit ihrem Nachbar spricht, überschaut sie unaufhörlich die ganze Tafel. Sie unterscheidet sofort, wer nicht ißt, weil sein Hunger befriedigt ist, und wer sich nicht selber vorzulegen oder etwas zu verlangen wagt, weil er unbeholfen oder schüchtern ist. Bei Aufhebung der Tafel ist Jeder überzeugt, daß sie nur an ihn gedacht habe. Alle hegen den Gedanken, sie könne keine Zeit gehabt haben, auch nur einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen; allein in Wahrheit hat sie mehr als irgend ein Anderer gegessen. Nach Aufbruch der Gäste unterhalten sich die Wirthe noch von den einzelnen Vorfällen des Tages. Der Mann erzählt, was man ihm mitgetheilt hat, was diejenigen, mit denen er sich unterhalten, gesagt und gethan haben. Wenn die Frau auch gerade hierüber nicht immer die genaueste Kunde hat, so ist ihr dafür nicht entgangen, was man am andern Ende des Saales ganz leise geflüstert hat. Sie hat errathen, was Dieser oder Jener gedachthat, worauf diese oder jene Aeußerungen, diese oder jene Geberden hinzielen. Kaum eine ausdrucksvolle Bewegung ist gemacht worden, die sie nicht sofort so zu deuten wüßte, daß sie die Wahrheit fast immer trifft.
Dieselbe Geistesgewandtheit, durch welche sich eine Weltdame in der Kunst, ein Haus zu machen, auszeichnet, macht es einer Buhlerin möglich, sich in der Kunst, gleichzeitig mehrere Anbeter zu unterhalten, hervorzuthun. Die List, zu der die Coquetterie ihre Zuflucht nehmen muß, verlangt sogar eine noch feinere Unterscheidungskunst als das Benehmen der Höflichkeit, denn hat sich eine höfliche Frau nur gegen Jedermann artig betragen, so hat sie damit allen Anforderungen stets Genüge geleistet, während die Buhlerin durch diese ungeschickte Einförmigkeit bald ihre Herrschaft einbüßen würde. Gerade dadurch, daß sie sich all ihren Liebhabern gefällig erweisen wollte, würde sie dieselben sämmtlich zurückstoßen. In den gesellschaftlichen Kreisen erregt das Betragen, welches man Allen gegenüber beobachtet, allerdings eines Jeden Gefallen; erfährt man nur eine freundliche Aufnahme, so nimmt man es mit etwaigen Bevorzugungen nicht so genau. In der Liebe gilt jedoch eine Gunst, welche keine ausschließliche ist, für eine Beleidigung. Einem Manne, der etwas auf sich hält, wird es hundertmal lieber sein, wenn er für sich allein eine unwürdige Behandlung zu erdulden hat, als wenn ihm dieselben Liebkosungen wie allen Uebrigen zu Theil werden. Das Schlimmste, was ihm widerfahren kann, ist, sich nicht ausgezeichnet zu sehen. Für eine Frau, welche sich mehrere Liebhaber erhalten will, kommt es also darauf an, Jedem von ihnen die Ueberzeugung zu verschaffen, daß sie ihn allein bevorzuge und ihm diese Ueberzeugung noch dazu unter den Augen aller Uebrigen beizubringen, während sie diese wiederum in seiner Gegenwart mit derselben Ueberzeugung erfüllen muß.
Wollt ihr den Anblick einer Persönlichkeit haben, die vor Verlegenheit nicht weiß, was sie
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