Emil oder Ueber die Erziehung
Beispiele voran! Ohne das eigene Beispiel vermag man bei Kindern nichts auszurichten.
Bei der Erklärung der Glaubensartikel bedient euch der Form des directen Unterrichtes, laßt euch auf Fragen und Antworten nicht ein. In ihren Antworten sollen sie ja stets nur das sagen, was sie denken, und nicht, was man ihnen eingegeben hat. Alle Antworten des Katechismus widersprechen der gesunden Vernunft, denn in ihnen ist es der Schüler, welcher den Lehrer unterrichtet. Ja, im Munde der Kinder sind es geradezu Lügen, da sie erklären, was ihnen durchaus unverständlich ist, und versichern, was sie zu glauben außer Stande sind. Man suche mir unter den intelligentesten Männern diejenigen aus, welche sich beim Hersagen ihres Katechismus keiner Lüge schuldig machen.
Die erste Frage in unserm Katechismus lautet: »Wer hat dich geschaffen und auf die Welt gesetzt?« Darauf antwortet nun das kleine Mädchen ohne zu stocken »Gott«, obgleich es völlig überzeugt ist, daß es seine Mutter gewesen. Das Einzige, was der Kleinen hierbei deutlich wird, ist, daß sie auf eine Frage, für welche ihr alles Verständniß abgeht, eine Antwort ertheilt, welche sie erst recht nicht versteht.
Ich wünschte, daß ein mit dem Entwicklungsgange des kindlichen Geistes vertrauter Mann es übernähme, einen für Kinder geeigneten Katechismus zu schreiben. Es würde vielleicht das nützlichste Buch sein, das je aus der Feder eines Schriftstellers hervorgegangen ist, und dies würde meines Erachtens nicht eben die geringste Ehre sein, die es seinem Verfasser brächte. Mit Sicherheit läßt sich aber voraussagen, daß dieses Buch, wenn es gut wäre, unseren Katechismen nicht in vielen Punkten gleichen würde.
Ein solcher Katechismus könnte nur dann Anspruch auf Brauchbarkeit machen, wenn das Kind auf die einzelnen Fragen selbstständige, nicht auswendig gelernte Antworten geben müßte, und wohl verstanden, wenn ihm hin und wieder selbst Gelegenheit gegeben würde, seinerseits einige Fragen zu stellen. Um meine Meinung verständlich zu machen, bedürfte es einer Art Musterkatechese. Obgleich ich mir sehr wohl bewußt bin, was mir fehlt, um einer solchen Arbeit gewachsen zu sein, so will ich doch wenigstens den Versuch machen, eine annähernde Idee davon zu geben.
Ich stelle mir also vor, daß der Verfasser, um zur ersten Frage unseres Katechismus zu kommen, ungefähr folgendermaßen beginnen müßte:
Erzieherin. Erinnerst du dich noch der Zeit, als deine Mutter ein Mädchen war?
Die Kleine. Nein, meine Liebe.
Erzieherin. Wie kommt das, da du doch sonst ein so gutes Gedächtniß hast?
Die Kleine. Ich lebte ja damals noch gar nicht.
Erzieherin. Du hast also nicht immer gelebt?
Die Kleine. Nein.
Erzieherin. Wirst du immer leben?
Die Kleine. Ja.
Erzieherin. Bist du jung oder alt?
Die Kleine. Ich bin jung.
Erzieherin. Ist deine Großmutter jung oder alt?
Die Kleine. Sie ist alt.
Erzieherin. Ist sie jung gewesen?
Die Kleine. Ja.
Erzieherin . Weshalb ist sie es jetzt nicht mehr?
Die Kleine . Weil sie gealtert hat.
Erzieherin. Wirst du ebenfalls altern?
Die Kleine. Ich weiß nicht. [8]
Erzieherin. Wo sind deine vorjährigen Kleider?
Die Kleine. Man hat sie zertrennt.
Erzieherin. Und weshalb hat man sie zertrennt?
Die Kleine. Weil sie mir zu klein geworden waren.
Erzieherin. Und weshalb waren sie dir zu klein geworden?
Die Kleine. Weil ich gewachsen bin.
Erzieherin. Wirst du noch größer werden?
Die Kleine. O gewiß!
Erzieherin. Und was werden die großen Mädchen?
Die Kleine. Sie werden Frauen.
Erzieherin. Und was werden die Frauen?
Die Kleine. Sie werden Mütter. Erzieherin. Und die Mütter, was werden sie?
Die Kleine. Sie werden alt.
Erzieherin. Wirst du denn auch alt werden?
Die Kleine. Wenn ich Mutter werde.
Erzieherin. Und was werden die alten Leute?
Die Kleine. Ich weiß nicht.
Erzieherin. Was ist aus deinem Großpapa geworden?
Die Kleine. Er ist gestorben. [9]
Erzieherin. Und weshalb ist er gestorben?
Die Kleine. Weil er alt war.
Erzieherin. Was wird also aus den alten Leuten?
Die Kleine. Sie sterben.
Erzieherin. Wenn du nun also alt wirst, was …
Die Kleine (sie unterbrechend). O, meine Liebe, ich will nicht sterben.
Erzieherin. Liebes Kind, Niemand will sterben und doch muß Jeder sterben.
Die Kleine. Wie? Wird denn meine Mama auch sterben?
Erzieherin. Wie alle Menschen. Die Frauen altern eben so gut wie die Männer, und das Alter führt zum Tode.
Die Kleine. Was muß man thun, um erst recht
Weitere Kostenlose Bücher