Emil oder Ueber die Erziehung
habe ich im Allgemeinen die Wahrnehmung gemacht, daß die Höflichkeit der Männer mehr dienstfertiger, die der Frauen mehr einschmeichelnder Natur ist. Dieser Unterschied ist keine Folge der Erziehung, sondern liegt in der Natur begründet. Der Mann scheint mehr darauf auszugehen, euch zu dienen, die Frau, euch zu gefallen. Daraus ergibt sich, daß, wie der Charakter der Frauen auch im Uebrigen beschaffen sein möge, ihre Höflichkeit weniger auf Falschheit beruht als die unserige, da sie dabei nur ihrem ursprünglichen Instincte Folge leisten. Wenn sich jedoch ein Mann den Anschein gibt, als ob er meinem Interesse den Vorzug vor dem seinigen einräume, so weiß ich mit Bestimmtheit, daß er sich einer Lüge schuldig macht, möge er sie auch verhüllen, wie er wolle. Es wird den Frauen deshalb nicht sehr sauer, höflich zu sein, und folglich auch den Mädchen nicht, es zu werden. Die erste Lehrmeisterin ist die Natur, die Aufgabe der Kunst besteht nur darin, ihrer Methode zu folgen, und im Anschluß an unsere Sitten zu entscheiden, in welcher Form sie sich zeigen soll. Was nun freilich die Höflichkeit anlangt, die sie im gegenseitigen Verkehre unter einander beobachten, so verhält es sich damit völlig anders. Sie nehmen unter sich ein so gezwungenes Wesen und eine so kalte Höflichkeit an, daß sie sich keine große Mühe geben, zu verbergen, welchen Zwang sie sich anthun müssen, um sich auch nur mit der allergewöhnlichsten Höflichkeit entgegen zu treten. Ihre Lüge erhält einen Anstrich von Offenherzigkeit, da sie dieselbe gar nicht zu verdecken suchen. Trotzdem entstehen unter jungen Mädchenhin und wieder im vollen Ernste die aufrichtigsten Freundschaften. In ihrem Alter ersetzt noch der Frohsinn das gute Herz. Zufrieden mit sich selbst, sind sie mit aller Welt zufrieden. Auch kann es als eine ausgemachte Thatsache gelten, daß sie sich vor den Augen der Männer herzlicher küssen und anmuthiger liebkosen, als wenn sie unter sich allein sind, da es sie mit einem gewissen Stolzgefühl erfüllt, die Lüsternheit jener durch den Austausch von Liebkosungen, um welche sie sich beneidet wissen, ungestraft reizen zu können.
Darf man schon Knaben nicht gestatten, vorwitzige Fragen zu stellen, so hat man noch weit triftigere Gründe dazu, sie jungen Mädchen zu untersagen, deren befriedigte oder in falscher Weise getäuschte Neugier sehr wohl im Stande ist, eine ganz andere Folge nach sich zu ziehen, da ihr Scharfsinn die Geheimnisse ahnt, welche man ihnen verhehlt, und ihre listige Feinheit sie auch wirklich entdeckt. Ohne ihre Fragen zu dulden, wünschte ich indeß, daß man ihnen selbst allerlei Fragen vorlegte, daß man es ihnen am Stoff zum Plaudern nicht fehlen ließe, daß man sie dazu aufmunterte, um sie in einer gewandten Ausdrucksweise zu üben, sie schlagfertig zu machen, ihnen eine gewisse geistige Freiheit zu verleihen und ihre Zunge zu lösen, so lange es noch auf ungefährliche Weise geschehen kann. Solche Gespräche, die immer einen heiteren Charakter an sich tragen, aber nur mit aller Vorsicht herbeigeführt und geschickt geleitet werden müßten, würden diesem Alter eine angenehme Unterhaltung gewähren und könnten in den unschuldigen Herzen der jungen Mädchen die ersten und vielleicht nützlichsten Lehren der Moral, die ihnen überhaupt das Leben geben kann, Wurzel schlagen lassen. Dies würde stets der Fall sein, wenn man sie unter dem Genusse eines Vergnügens und der Befriedigung ihrer Eitelkeit auf die Eigenschaften aufmerksam machte, welchen die Männer in Wahrheit ihre Achtung schenken, und ihnen zeigte, worin die Ehre und das Glück einer sittsamen Frau besteht.
Man wird es begreiflich finden, daß, wenn schon die Knaben außer Stande sind, sich einen richtigen Begriffvon der Religion zu bilden, sich dieser Begriff in noch weit höherem Maße der Fassungskraft der Mädchen entziehen muß. Aber gerade aus diesem Grunde wünschte ich mit ihnen schon früher von der Religion zu reden. Wollte man etwa warten, bis sie diese tiefen Fragen methodisch zu behandeln vermöchten, so liefe man Gefahr, nie dahin zu gelangen. Die Vernunft der Frauen ist eine praktische Vernunft, welche sie zwar die Mittel, welche zur Erreichung eines bekannten Zieles gehören, sehr geschickt finden läßt, nie aber das Ziel selbst. Die gesellschaftliche Stellung beider Geschlechter zu einander ist bewundernswerth. Aus diesem geselligen Verkehr entwickelt sich ein moralisches Wesen, dessen Auge die Frau, dessen Arm
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