Emil oder Ueber die Erziehung
Beziehung geändert. Am häufigsten durchstreift er die Felder der Umgegend und nimmt seine naturgeschichtlichen Studien wieder auf. Er stellt Beobachtungen an, untersucht den Boden, seine Erzeugnisse, die Art seines Anbaues. Er vergleicht die Feldarbeiten, welche er sieht, mit den ihm bekannten Methoden. Er sucht sich die Gründe der Abweichungen klar zu machen. Hält er sich überzeugt, daß andere Methoden vor den ortsüblichen den Vorzug verdienen, so macht er die Landwirthe mit denselben bekannt. Schlägt er ihnen eine bessere Form des Pfluges vor, so läßt er einen solchen nach seinen Zeichnungen anfertigen. Zufällig trifft er einen Mergelbruch und nimmt davon Veranlassung, sie auf die hier zu Lande noch unbekannte Anwendung des Mergels aufmerksam zu machen. Oft legter selbst Hand ans Werk. Sie gerathen in Erstaunen, wenn sie sehen, wie er mit ihren Werkzeugen geschickter umzugehen weiß wie sie selbst, wie er tiefere und geradere Furchen zieht, gleichmäßiger säet und die Frühbeete mit größerem Geschick anzulegen weiß als sie. Es fällt ihnen nicht ein, sich über ihn lustig zu machen, wie sie es über die zu thun pflegen, die über den Ackerbau nur schön zu schwatzen verstehen; sie sehen, daß er ihn wirklich kennt. Daß ich es kurz sage, er dehnt seinen Eifer und seine Fürsorge auf Alles aus, was einen wesentlichen und allgemeinen Nutzen gewährt. Doch nicht einmal hiermit setzt er seiner Thätigkeit Grenzen. Er besucht die Landleute in ihren Häusern, erkundigt sich nach ihren Verhältnissen, nach ihren Familien, nach der Zahl ihrer Kinder, nach dem Umfange ihrer Ländereien, nach der Beschaffenheit des Ertrages derselben und nach den besten Absatzwegen, fragt nach ihrem Vermögen, nach den auf den Grundstücken ruhenden Lasten, nach ihren Schulden u. s. w. Geldhilfe gewährt er selten, da ihm nur zu wohl bekannt ist, daß sie gewöhnlich schlecht angewandt wird. Dafür zeigt er ihnen, wie sie selbst den besten Gebrauch von ihrem Gelde machen können, und wird so die Ursache, daß es ihnen trotz ihrer geringen Einsicht in Geldangelegenheiten dennoch Nutzen bringt. Er verschafft ihnen Arbeiter und bezahlt ihnen oft für die Arbeiten, deren sie bedürfen, ihren eigenen Tagelohn. Dem Einen läßt er seine halbverfallene Hütte wieder herstellen oder decken; dem Andern läßt er sein Feld bestellen, das aus Mangel an den nöthigen Mitteln hatte brach liegen müssen; wieder einem Andern schenkt er eine Kuh, ein Pferd, kurz irgend ein Stück Vieh zum Ersatze dessen, welches ihm gefallen ist. Zwei Nachbarn stehen im Begriff, einen Proceß gegen einander anzustrengen; er spricht ihnen gütlich zu und versöhnt sie. Ein Bauer erkrankt; er läßt ihn ärztlich behandeln oder behandelt ihn vielmehr selbst. [26] Ein Anderer sieht sichden Bedrückungen eines mächtigen Nachbars ausgesetzt; er nimmt ihn in Schutz und tritt als Fürsprecher für ihn auf. Armen Verlobten macht er es möglich, sich zu verheirathen. Eine gute Frau, die ihr geliebtes Kind verloren hat, besucht er. Lange weilt er bei ihr, während er sich bemüht, sie zu trösten. Er verachtet die Armen nicht, noch verräth er Eile, sich von den Unglücklichen wieder loszumachen. Oft theilt er das Mahl der Landleute, die er unterstützt, setzt sich aber auch mit denen zu Tische, die seiner nicht bedürfen. Während er der Wohlthäter der Einen und der Freund der Andern wird, hört er nicht auf, sich als ihres Gleichen zu betrachten. Kurz, er stiftet durch seine Persönlichkeit stets eben so viel Gutes wie durch sein Geld.
Hin und wieder lenkt er seine Ausflüge nach der Seite jenes glücklichen Landhauses. Es ist ja Hoffnung vorhanden, daß er Sophie heimlich entdecken, daß er sie, ohne selbst bemerkt zu werden, auf einem Spaziergange erblicken könnte. Aber Emil ist in seinem ganzen Auftreten stets offen und ehrlich, er kann und will nicht zu Umwegen seine Zuflucht nehmen. Er besitzt jenes liebenswürdige Zartgefühl, welches der Eigenliebe in Folge des guten Selbstzeugnisses so wohl thut und sie erhöht. Streng richtet er sich nach dem ihm ertheilten Verbote und kommt nie so nahe, daß er dem Zufall das verdanken könnte, was er Sophie allein verdanken will. Dafür irrt er voller Freuden in der Umgebung umher, um die Spuren der Schritte seiner Geliebten aufzusuchen. Mit tiefer Bewegung sieht er die Mühe, welche sie sich gegeben, und die Gänge, die sie ihm zu Liebe unternommen hat. Am Abend vor dem Tage, an welchem er sie besuchen darf, begibt
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