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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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verweigern, so wäre ich in der That in Verlegenheit, wo ich in der Geschwindigkeit andere Arbeiter hernehmen sollte, und wäre außer Stande, den verabredeten Termin innezuhalten.« Die Mutter entgegnet nichts in der Erwartung, daß Emil das Wort ergreifen werde. Emil aber läßt den Kopf hängen und bleibt stumm. »Mein Herr,« sagt sie endlich, über dieses Schweigen ein wenig aus der Fassung gebracht, »haben Sie darauf nichts zu erwidern?« Emil blickt die Tochter zärtlich an und sagt kleinlaut: »Sie sehen wol, daß ich bleiben muß.« Hierauf brechen die Damen auf und verlassen uns. Emil gibt ihnen bis an die Thür das Geleite, folgt ihnen, so weit er kann, mit den Augen, seufzt und geht, ohne weiter ein Wort zu verlieren, wieder an die Arbeit.

    Unterwegs spricht sich die Mutter, die sich in der That gekränkt fühlt, über die Sonderbarkeit dieser Handlungsweise ihrer Tochter gegenüber ziemlich hart aus. »Wie!« sagt sie, »sollte es wirklich so schwierig gewesen sein, den Meister zufrieden zu stellen, ohne sich dem Zwange zu fügen, da zu bleiben? Hat dieser junge Mann, der sonst so verschwenderisch ist und mit dem Gelde unnöthig erweise um sich wirft, dann, wenn es einmal angewandt wäre, keins mehr übrig?« – »O Mutter,« erwidert Sophie, »da sei Gott vor, daß sich Emil in Überschätzung des Geldes je desselben bediene, um eine persönliche Verpflichtung rückgängig zu machen, ungestraft sein Wort zu brechen und die Schuld zu tragen, daß es auch ein Anderer breche! Ich weiß, daß es ihm nicht schwer fallen würde, den Meister für den geringen Verlust, den ihm seine Abwesenheit verursachen könnte, zu entschädigen, aber dann würde er seine Seele von dem Reichthume knechten lassen, dann würde er sich daran gewöhnen, bei jeder Pflichtverletzung mit demselben einzutreten und sich dem Wahne hinzugeben, man könne sich Alles erlauben, wenn man nur zahle. Emilhuldigt andern Anschauungen, und ich hoffe nicht die unschuldige Veranlassung zu sein, daß er sie ändert. Denkst du nicht, daß es ihm schwer genug gefallen ist, zu bleiben? Irre dich nicht, Mama, gerade um meinetwillen bleibt er, das habe ich deutlich in seinen Augen gelesen.«
    Das beweist noch nicht, daß sich Sophie hinsichtlich der wahren Aufmerksamkeiten der Liebe einer großen Nachsicht rühmen könne. Im Gegentheile ist sie gebieterisch und anspruchsvoll. Lieber möchte sie gar nicht, als nur mäßig geliebt werden. Sie besitzt den edlen Stolz des Verdienstes, welches seinen Werth kennt, sich selbst achtet und verlangt, daß man es ehre, wie es sich selber ehrt. Sie würde ein Herz verschmähen, welches den vollen Werth des ihrigen nicht zu schätzen verstände und sie um ihrer Tugenden willen nicht eben so sehr, ja noch mehr lieben würde, als um ihrer Reize willen, ein Herz, welches seine Pflicht nicht höher als sie und sie wieder höher als jedes andere Gut stellte. Ihr Begehren ist gar nicht auf einen Geliebten gerichtet gewesen, dem kein anderes Gesetz als ihr Wille gilt. Der Mann, über den sie herrschen will, hat sich nicht vorher durch sie seiner männlichen Würde dürfen berauben lassen. So verschmäht Circe die Gefährten des Ulysses, die sie herabgewürdigt hat, und ergibt sich ihm allein, den sie nicht zu verwandeln vermochte.
    Sehen wir von diesem unverletzlichen und heiligen Rechte ab, so ist Sophie auf alle ihr gebührenden Rechte über alle Maßen eifersüchtig und wacht aufmerksam darüber, wie streng es Emil mit seinen Ehrfurchtsbezeigungen gegen sie nimmt, wie eifrig er ihren Wünschen nachzukommen sucht, mit welcher Freude er sich bemüht, sie ihr an den Augen abzulesen, mit welcher Pünktlichkeit er in dem vorgeschriebenen Augenblicke eintrifft. Sie verlangt, daß er weder zu früh noch zu spät erscheine, sondern fordert Pünktlichkeit von ihm. Zu früh kommen hieße seinen Willen über den ihrigen stellen, zu spät kommen hieße dagegen sie vernachlässigen. Sophie vernachlässigen! Das würde nicht zweimal vorkommen. Ihr ungerechter Verdacht hätte einst beinahe Alles verdorben, allein Sophie ist billigdenkend und weiß ihr Unrecht wieder gut zu machen.Eines Abends erwartet man uns. Emil ist bestellt worden. Man geht uns entgegen, aber wir kommen nicht. »Was in aller Welt ist aus ihnen geworden? Welches Unglück ist ihnen zugestoßen? Kein Bote bringt Nachricht!« Der Abend verrinnt, wahrend man uns noch immer erwartet. Die arme Sophie befürchtet schon, daß wir gestorben sind. Sie ist untröstlich,

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