Emil oder Ueber die Erziehung
ihren Geschmack, ihre Gesinnung und zeigen nur in der Gewohnheit des Wechselns Beständigkeit. Der maßvolle Mann dagegen kommt regelmäßig auf seine alten Gewohnheiten zurück und verliert selbst im Alter nicht den Geschmack an Freuden, die er als Kind liebte.
Könnt ihr es dahin bringen, daß die jungen Leute beim Uebergange in ein neues Lebensalter auf das zurückgelegte nicht mit Verachtung blicken, daß sie trotz der Annahme neuer Gewohnheiten den alten nicht entsagen und ihre Freude darin finden, stets das zu thun, was gut ist, ohne Rücksicht auf die Zeit, in welcher sie es begonnen haben: dann allein werdet ihr euer Werk als gesichert betrachten und bis ans Ende ihrer Tage derselben versichert sein können, denn der am meisten zu fürchtende Umschwung vollzieht sich gerade in dem Alter, über welches ihr jetzt zu wachen habt. Wie man sich fortwährend nach ihm zurücksehnt, so verliert man in der Folge auch nur schwer die Neigungen, welche man in ihm gewonnen hat, während man sich ihnen, wenn eine Unterbrechung in ihnen eintrat, zeitlebens nicht wieder hingibt.
Die meisten Gewohnheiten, zu deren Annahme ihr eurer Ansicht nach die Kinder und jungen Leute bestimmt habt, sind gar keine wirkliche Gewohnheiten, weil sie dieselben nur gezwungenerweise angenommen haben und sie unlustig beobachten und weil sie deshalb nur auf die Gelegenheit warten, sie wieder ablegen zu können. Aus dem Umstande, daß man sich gezwungen sieht, sich im Gefängnisse aufzuhalten,gewinnt man den Aufenthalt in demselben noch nicht lieb. Statt den Widerwillen zu vermindern, erhöht ihn dann eine solche Gewohnheit nur noch. Ganz anders verhält es sich mit Emil. Da er schon in seiner Kindheit Alles, was er that, nur aus freiem Antriebe und mit Freuden that, so wird er, wenn er jetzt als Mann die frühere Thätigkeit beibehält, mit der Herrschaft der Gewohnheit die Süßigkeit der Freiheit verbinden. Das thätige Leben, die Arbeit der Arme, Leibesübung und Bewegung sind ihm in so hohem Grade zur Notwendigkeit geworden, daß er ihnen, ohne darunter zu leiden, nicht würde entsagen können. Ihn mit einem Male zu einer weichlichen und sitzenden Lebensweise zu zwingen, hieße ihn einschließen, in Fesseln schlagen, in einem gewaltsamen und unnatürlichen Zustande halten. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß seine Laune wie seine Gesundheit in gleicher Weise darunter leiden würden. Kaum vermag er in einem wohlverschlossenen Zimmer frei zu athmen. Ihm ist freie Luft, Bewegung und Anstrengung ein Bedürfniß. Selbst wenn er vor Sophie auf den Knieen liegt, kann er sich nicht enthalten, hin und wieder einen verstohlenen Blick in das Freie zu werfen und zu wünschen, die Fluren mit ihr durchstreifen zu können. Trotzdem bleibt er, weil er einmal bleiben muß. Aber er ist unruhig, erregt und scheint mit sich selbst im Kampfe zu liegen; er bleibt, weil er gefesselt ist. Ihr werdet freilich den Einwand erheben, daß das doch gewiß Bedürfnisse seien, die durch meine Schuld eine Herrschaft über ihn ausübten, Beschränkungen, die ich ihm auferlegt hätte. Das ist allerdings wahr: ich habe ihn angehalten, sich dem Zustande des Menschen zu unterwerfen.
Emil liebt Sophie. Aber welche Reize haben ihn hauptsächlich angezogen? Ihre natürliche Güte, ihre Tugend, ihre Liebe zum Sittlichen. Sollte es wol für ihn als ein Verlust gelten können, wenn er diese Liebe an seiner Geliebten schätzt? Und um welchen Preis hat Sophie ihrerseits seine Liebe angenommen? Um den Preis aller Gefühle, welche dem Herzen ihres Geliebten natürlich sind: die Wertschätzung aller wahren Güter, Mäßigkeit, Einfachheit,edle Uneigennützigkeit, Verachtung alles Prunks und der Reichthümer. Emil besaß diese Tugenden bereits, noch ehe ihn die Liebe zu ihrer Uebung hätte bestimmen können. Worin hätte er sich also wirklich geändert? Es sind für ihn nur neue Gründe hinzugetreten, so zu sein, wie er ist. Das ist aber auch der einzige Punkt, in welchem er von dem; was er war, jetzt verschieden sein mag.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend Jemand, welcher mein Buch mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, wähnen könnte, alle Verhältnisse in der Lage Emils seien ein bloßes Ergebniß des Zufalls. Ist es wol ein Spiel des Zufalls, daß bei der großen Schaar liebenswürdiger Mädchen in den Städten gerade die, welche ihm gefällt, fern in tiefster Zurückgezogenheit weilt? Ist es Zufall, daß er sie trifft, Zufall, daß sie für einander passen, Zufall,
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