Emil oder Ueber die Erziehung
er sich nach irgend einer benachbarten Meierei, um für den nächsten Morgen ein Frühstück zu bestellen. Der Spaziergang wird, scheinbar ohne Absicht, nach jener Richtunghin eingeschlagen. Wie zufällig tritt man ein und findet Obst, Kuchen und Sahne. Die etwas leckerhafte Sophie ist für diese Aufmerksamkeit durchaus nicht unempfindlich und erweist unserer Fürsorge alle Ehre, denn so oft sie etwas Verbindliches äußert, bekomme ich stets meinen Antheil davon ab, und hätte ich auch zu dem Dienste, welchem sie ihr Lob spendet, nicht das Geringste beigetragen. Die Kleine nimmt zu dieser Kriegslist ihre Zuflucht, um bei der Abstattung ihres Dankes weniger in Verlegenheit zu gerathen. Der Vater und ich essen Kuchen und trinken Wein, Emil aber theilt den Geschmack der Frauen und ist beständig auf der Lauer, ob er sich nicht einen Teller mit Sahne aneignen kann, in welchen Sophie ihren Kuchen getaucht hat.
Als der Kuchen herumgereicht wird, erinnere ich Emil an seine früheren Wettläufe. Man will wissen, auf was ich anspiele. Ich gebe den begehrten Aufschluß und man lacht darüber. Man fragt ihn, ob er noch laufen könne. »Besser als je,« erwidert er, »es würde mir nicht lieb sein, wenn ich es verlernt hätte.« Jemand aus der Gesellschaft hätte große Lust, ihn laufen zu sehen, wagt es jedoch nichts den Wunsch auszusprechen, weshalb es ein Anderer übernimmt, einen darauf hinzielenden Vorschlag zu machen. Er geht darauf ein. Man treibt einige junge Männer aus der Umgegend auf, setzt einen Preis fest, und um die alten Spiele möglichst getreu nachzuahmen, wird ein Kuchen als Preis ausgesetzt. Jeder stellt sich in Bereitschaft; der Vater gibt das Zeichen, indem er in die Hände klatscht. Der leichtfüßige Emil fliegt förmlich dahin und hat die Rennbahn durchmessen, noch ehe die drei plumpen Gesellen recht in Gang gekommen sind. Emil empfängt den Preis aus Sophiens Händen und nicht weniger großmüthig als Aeneas theilt er unter den Besiegten Geschenke aus.
Inmitten der allgemeinen Bewunderung und des Triumphes unterfängt sich Sophie den Besieger herauszufordern und rühmt sich, es mit ihm im Laufen aufnehmen zu können. Er lehnt es nicht ab, mit ihr in die Schranken zu treten. Während sie sich am Anfange derRennbahn in Bereitschaft setzt, ihr Kleid auf beiden Seiten aufschürzt und, mehr in der Absicht Emils Blicken ihren kleinen Fuß zu zeigen als wirklich im Wettlaufe zu siegen, nachsieht, ob ihre Röcke kurz genug sind, flüstert er der Mutter etwas ins Ohr. Sie lächelt und gibt durch ein Zeichen ihre Zustimmung zu erkennen. Nun nimmt er den Platz an der Seite seiner Mitbewerberin ein, und kaum ist das Zeichen gegeben, als man sie vom Male ablaufen und wie einen Vogel dahinfliegen sieht.
Die Frauen sind nicht zum Laufen geschaffen. Ergreifen sie die Flucht, so geschieht es, um sich einholen zu lassen. Freilich ist das Laufen nicht das Einzige, bei dem sie sich ungeschickt anstellen, aber es ist das Einzige, bei dem sie keine Anmuth entfalten. Ihre nach rückwärts gestreckten und eng an den Leib gepreßten Ellenbogen verleihen ihnen ein lächerliches Ansehen, und die hohen Absätze, auf welchen sie einherschreiten, machen sie Heuschrecken ähnlich, welche sich von ihrem Flecke bewegen möchten, ohne zu hüpfen.
Da Emil sich nicht denken kann, daß Sophie schneller als andere Mädchen zu laufen im Stande sei, so bleibt er ruhig auf seinem Platze stehen und blickt ihr mit spöttischem Lächeln nach. Sophie indeß ist leichtfüßig und trägt, da sie keines Kunstgriffes bedarf, um ihren Fuß klein und zierlich erscheinen zu lassen, niedrige Absätze. In größter Geschwindigkeit gewinnt sie einen so bedeutenden Vorsprung, daß Emil keine Zeit versäumen darf, wenn er diese neue Atalante, die er schon so weit vor sich erblickt, einholen will. Wie ein Adler, der sich auf seine Beute stürzt, fliegt er deshalb hinter ihr her. Er verfolgt sie, ist ihr bald hart auf den Fersen, holt endlich die völlig Athemlose ein, schlingt sanft den linken Arm um sie, hebt sie federleicht in die Höhe und beendet, die süße Last fest an sein Herz gedrückt, den Lauf, läßt sie aber das Ziel zuerst berühren, während er zugleich ruft: »Sophie hat gesiegt!« Darauf beugt er ein Knie vor ihr und erkennt sich als besiegt.
An diese mannigfaltigen Beschäftigungen schließt sich auch die Ausübung des Handwerks, welches wir erlernthaben. Wenigstens an einem Tage wöchentlich so wie außerdem an allen denen, an welchen
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