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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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daß sie nicht am nämlichen Orte wohnen können? Treibt auch dabei der Zufall sein Spiel, daß er erst in weiterer Entfernung von ihr eine Wohnung findet? Kann es Zufall sein, daß er sie so selten sieht und das Vergnügen, hin und wieder ihren Anblick genießen zu können, mit so vielen Mühseligkeiten erkaufen muß? Nach eurer Behauptung verweichlicht er sich, aber er härtet sich im Gegentheile ab. Er muß so kräftig sein, wie er es meiner Erziehung zu verdanken hat, um all den Beschwerden, welche er um Sophie willen ertragen muß, gewachsen zu sein.
    Er wohnt zwei starke Stunden von ihr. Diese Entfernung dient ihm in ähnlicher Weise wie der Blasebalg der Schmiede. Durch sie härte ich die Pfeile der Liebe. Wohnten sie Thüre an Thüre, oder brauchte er sich zu ihrem Besuche nur auf die weichen Polster eines herrschaftlichen Wagens zu setzen, so würde ihm seine Liebe freilich keine Unbequemlichkeit verursachen, so würde er nach Pariser Art lieben. Hätte Leander aber wol für Hero sterben wollen, wenn ihn das Meer nicht von ihr geschieden hätte? Leser, erspart mir alle weitere Worte! Fehlt es euch nicht an Verständniß für meine Lehren, so werdet ihr meine Regeln bis ins Einzelne zur Genüge befolgen.
    Bei den ersten Besuchen, die wir Sophie abstatteten,mietheten wir uns Pferde, um unser Ziel schneller zu erreichen. Wir finden diese Art zu reisen bequem und bedienen uns deshalb der Pferde öfter. Beim fünften Male hatte man uns erwartet. Ueber eine halbe Stunde vom Hause gewahren wir Leute vor uns auf dem Wege. Emil schaut aufmerksam nach ihnen hin, und das Herz beginnt ihm zu klopfen. Er reitet näher, erkennt Sophie, springt eilig vom Pferde, läuft, fliegt und liegt in wenigen Augenblicken der liebenswürdigen Familie zu Füßen. Emil liebt schöne Pferde; das seinige ist etwas wild; es fühlt sich frei und sprengt quer über das Feld fort. Ich reite hinterher, hole es mit Mühe ein und bringe es zurück. Da sich Sophie unglücklicherweise vor den Pferden fürchtet, wage ich nicht, mich ihr zu nähern. Emil sieht nichts, allein Sophie flüstert ihm ins Ohr, welche Mühe sich sein Freund um seinetwillen habe geben müssen. Ganz beschämt eilt Emil herbei, ergreift die Pferde und bleibt zurück. Es ist ganz in der Ordnung, daß die Reihe einen Jeden trifft. Er reitet voraus, um unsere Thiere den Dienstleuten zu übergeben. Da er sich gezwungen sieht, Sophie zurückzulassen, so kommt ihm das Reiten nicht mehr so angenehm vor. Außer Athem kehrt er zurück und begegnet uns auf halbem Wege.
    Bei unserem nächsten Besuche will Emil von Pferden nichts mehr wissen. »Weshalb denn?« frage ich ihn; »wir brauchen ja nur einen Diener mitzunehmen, dem wir ihre Wartung übertragen können.« – »Ach,« versetzte er, »warum sollen wir der achtbaren Familie solche Ueberlast bereiten? Sie wissen ja, daß sie für unser Aller, der Pferde wie Männer, Unterhalt sorgen will.« – »Es ist wahr,« erwidere ich, »sie besitzen die edle Gastfreundschaft der Dürftigkeit. Während die Reichen, die bei all ihrem äußeren Prunke doch habsüchtig sind, nur ihre Freunde bei sich aufnehmen, gewähren die Armen sogar den Pferden ihrer Freunde Unterkunft.« – »So lassen Sie uns denn zu Fuß gehen,« entgegnete er. »Sollten Sie sich das nicht zutrauen, Sie, die Sie stets so bereitwillig die ermüdenden Vergnügungen Ihres Kindes theilen?« – »Herzlich gern,« erwidere ich sofort, »auch muß man nach meinem Bedünkenbei seinen Liebesgängen nicht mit so großem Geräusch auftreten!«
    Als wir näher kommen, bemerken wir, daß uns Mutter und Tochter noch weiter als das erste Mal entgegengekommen sind. Wie im Fluge sind wir bei ihnen. Emil ist wie aus dem Wasser gezogen. Eine theure Hand trocknet ihm mit dem Taschentuche freundlich die Wangen. Und wäre die ganze Welt voller Pferde, so würden wir uns von nun an nie wieder versucht fühlen, uns derselben zu bedienen.
    Indeß empfinden wir es ziemlich hart, daß wir nie den Abend mit einander verleben können. Der Sommer neigt sich seinem Ende entgegen und die Tage beginnen abzunehmen. Was wir auch immer sagen mögen, so gestattet man uns doch nie, erst bei Nacht unsern Heimweg anzutreten, und wenn wir uns nicht gleich des Morgens einstellen wollen, so müssen wir fast gleich nach unserer Ankunft wieder scheiden. Da man uns allseitig bedauert und sich unsertwegen beunruhigt fühlt, geräth die Mutter endlich auf den Gedanken, daß vielleicht, da ihnen die Schicklichkeit

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