Emil oder Ueber die Erziehung
jedoch den Lesern, sich unsere Reise selber auszumalen, oder sie mit einem Telemach an der Hand selbst zu machen. Ich habe nicht Lust, Veranlassung zu verletzenden Auslegungen zu geben, von welchen sich der Verfasser selbst fern hält oder die er wenigstens gegen seinen Willen macht.
Da Emil übrigens kein König ist und ich eben so wenig ein Gott bin, so fühlen wir uns nicht beunruhigt darüber, daß wir mit Telemach und Mentor in dem Guten, welches sie den Menschen erwiesen, nicht wetteifern können. Niemand versteht besser als wir, in der ihm angewiesenen Stellung zu verharren, Niemand hegt weniger Verlangen, aus ihr herauszutreten. Wir wissen, daß Allen dieselbe Aufgabe gestellt ist, wissen, daß Jeder, der das Gute von ganzem Herzen liebt und es nach bestem Vermögen thut, sie erfüllt. Wir wissen, daß Telemach und Mentor Gebilde der Phantasie sind. Emil reist nicht wie ein Müßiggänger und thut mehr Gutes als wenn er ein Fürst wäre. Selbst in der Stellung von Königen könnten wir nicht wohlthätiger sein. Wenn wir Könige und wohlthätig wären, würden wir für eine einzige scheinbar gute Handlung, die wir zu thun glaubten, unwissentlich tausend wirkliche Schlechtigkeiten ausführen. Wären wir Könige und Weise, so würde das erste Gute, das wir uns selbst und Anderen erweisen könnten, darin bestehen, die Krone freiwillig niederzulegen und wieder das zu werden, was wir jetzt sind.
Ich habe die Gründe angegeben, aus welchen das Reisen im Allgemeinen so unfruchtbar bleibt. Was es jedoch für die Jugend noch unfruchtbarer macht, ist die Art und Weise, in der man sie ihre Reisen zur Ausführung bringen läßt. Die Erzieher, welche sich mehr ihr eigenes Vergnügen als die Belehrung ihres Zöglings angelegen sein lassen, führen ihn rastlos von Stadt zu Stadt, von Palast zu Palast, von Gesellschaft zu Gesellschaft, oder lassen ihn, wenn sie dem Stande der Gelehrten und Schriftsteller angehören, seine Zeit damit hinbringen, Bibliotheken zu durchlaufen, Alterthumsforscher zu besuchen, alteDenkmäler auszugraben und alte Inschriften abzuschreiben. In jedem Lande beschäftigen sie sich mit einem andern Jahrhunderte, was eben so viel sagen will, als beschäftigten sie sich mit einem andern Lande. Die Folge davon ist, daß sie, nachdem sie Europa mit großen Kosten durchstreift haben und dabei entweder eine Beute des Leichtsinns oder der Langenweile geworden sind, zurückkehren, ohne etwas gesehen zu haben, was ihr Interesse hätte in Anspruch nehmen können, oder etwas gelernt zu haben, was ihnen nützlich gewesen wäre.
Alle Hauptstädte gleichen einander. In ihnen sind alle Völker vertreten und herrschen alle Sitten. Sie bilden nicht den Schauplatz für das Studium der Völker. Paris und London sind in meinen Augen die nämliche Stadt. Ihre Einwohner haben wol einige verschiedene Vorurtheile, allein die Einen sind von nicht weniger als die Anderen erfüllt, und alle ihre praktischen Grundsätze sind dieselben. Man weiß, welche Menschenclassen sich an den Höfen versammeln müssen. Man weiß, welche Sitten eine zu dichte Menschenmasse und die Ungleichheit des Vermögens herbeiführen muß. Sobald man mir von einer Stadt spricht, die zweimalhunderttausend Seelen zählt, so weiß ich im Voraus, wie man dort lebt. Was mir sonst die einzelnen Orte Besonderes darbieten könnten, ist wahrlich keine Besuchsreise werth.
Den Geist und die Sitten eines Volkes muß man in den entlegenen Provinzen studiren, in denen Verkehr und Handel weniger entwickelt sind, die von Fremden seltener besucht werden, deren Bewohner seltener ihren Wohnsitz ändern und in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse und gesellschaftlichen Zustände etwaigen Wechselfällen weniger unterworfen sind. Seht euch die Hauptstadt auf der Durchreise an, stellet aber eure Beobachtungen erst in größerer Entfernung von ihr an. Die Franzosen sind nicht in Paris, sondern in der Touraine zu finden; die Engländer sind mehr Engländer in Mercia als in London, und die Spanier mehr Spanier in Galizien als in Madrid. Nur in solchen entlegenen Landestheilen tritt der Charakter eines Volkes hervor und zeigt es sich in seiner Eigenart. Inihnen machen sich die guten wie die schlechten Wirkungen der Regierung am besten fühlbar, in derselben Weise wie sich am Ende eines größeren Radius der Bogen genauer messen laßt.
Die unvermeidlichen Beziehungen zwischen den Sitten und der Regierung sind in dem bekannten Buche »der Geist der Gesetze« so klar dargelegt
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