Emil oder Ueber die Erziehung
wie wir gesehen haben, in den verschiedenen Staaten die Anzahl der obrigkeitlichen Personen [36] im umgekehrten Verhältnisse zu der der Bürger stehen muß, so werden wir unsererseits den Schluß daraus ziehen, daß im Allgemeinen die demokratische Regierung für die kleinen Staaten, die aristokratische für die mittelgroßen, die monarchische für die großen Staaten am geeignetsten ist.
An dem Faden dieser Untersuchungen werden wir zuder Kenntniß gelangen, worin die Pflichten und Rechte der Bürger bestehen, und ob sich die einen von den andern trennen lassen, werden lernen, was Vaterland ist, was eigentlich das Wesen desselben ausmacht, und woran ein Jeder erkennen kann, ob er ein Vaterland hat oder nicht.
Nachdem wir auf diese Weise jede Art der bürgerlichen Gesellschaft an sich betrachtet haben, werden wir sie zur Wahrnehmung ihrer verschiedenen Beziehungen zu einander vergleichen, die Größe und Stärke der Einen mit der Kleinheit und Schwäche der Andern, werden unsere Aufmerksamkeit auf ihre Angriffsweise, auf ihre Sucht, einander zu verletzen, so wie auf ihre gegenseitige Zerstörungswuth richten und uns davon überzeugen, daß sie bei dieser beständigen Wirkung und Gegenwirkung mehr Menschen elend machen und dem Tode entgegenführen, als wenn sie alle ihre ursprüngliche Freiheit bewahrt hätten. Wir werden untersuchen, ob man nicht in der socialen Einrichtung zu viel oder zu wenig gethan hat; ob nicht, während die Genossenschaften unter einander die Unabhängigkeit der Natur bewahren, die den Gesetzen und den Menschen unterworfenen Individuen den Uebeln beider Stände preisgegeben bleiben, ohne sich zugleich deren Vortheile aneignen zu können, und ob es nicht ungleich besser wäre, wenn überhaupt gar keine bürgerliche Gesellschaft in der Welt existirte, als daß es deren mehrere gibt. Ist es nicht gerade dieser gemischte Zustand, welcher an allen beiden Theil hat und eben deshalb keinem von ihnen Sicherheit gewährt, per quem neutrum licet, nec tanquam in bello paratum esse, nec tanquam in pace securum ? [37] Ist es nicht gerade jene partielle und unvollkommene Vereinigung, welche die Tyrannei und den Krieg in ihrem Gefolge hat? Und sind nicht Tyrannei und Krieg die größten Geißeln der Menschheit?
Endlich werden wir noch die Art von Mitteln untersuchen, welche man zur Abhilfe dieser Uebelstände in Bündnissen und Staatsverträgen aufgefunden haben will, welche jeden Staat, trotzdem sie ihm in innern Angelegenheitenfreie Hand lassen, nach Außen gegen jeden ungerechten Angriff waffnen. Wir werden untersuchen, wie man ein gutes Bündniß abschließen kann, was im Stande ist, demselben Dauer zu gewähren, und bis zu welchem Punkte man das Recht des Bundesstaates auszudehnen vermag, ohne das Recht der Souverainität zu verletzen.
Der Abbé von Saint-Pierre hatte ein Bündniß aller Staaten Europas vorgeschlagen, um einen ewigen Frieden unter ihnen aufrecht zu erhalten. Wäre ein solches Bundesverhältniß wol ausführbar? Ließe sich, falls es bereits in das Leben gerufen wäre, wol annehmen, daß es Bestand haben könnte? [38] Diese Untersuchungen führen uns unmittelbar auf alle Fragen des gemeinen Rechts, welche dazu beitragen können, über die des Staatsrechtes Licht zu verbreiten.
Endlich werden wir die wahren Grundsätze des Kriegsrechtes aufstellen und uns darüber klar zu werden suchen, weshalb Grotius und Andere nur falsche angegeben haben.
Es würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn mich Emil, dem es nicht an richtigem Urtheile fehlt, inmitten dieser Untersuchungen unterbrechen und sagen würde: »Man sollte meinen, wir errichteten unser Gebäude von Holz und nicht von Menschen, so genau richten wir jedes Stück nach der Schnur!« – »Wol wahr, mein Freund, indeß bedenke, daß sich das Recht nicht in die Leidenschaften der Menschen fügt, und daß es uns darum zu thun war, zunächst die wahren Grundsätze des Staatsrechtes aufzustellen. Nachdem jetzt der Grund gelegt ist, wollen wir prüfen, was die Menschen auf demselben aufgeführt haben, und du wirst schöne Dinge zu sehen bekommen.«
Nun lasse ich ihn den Telemach lesen und denselben auf seiner Reise im Geiste begleiten. Wir suchen das glückliche Salentum und den guten Idomeneus auf, welcher in seinem Unglück die Quelle der Weisheit fand. Unsern Wegverfolgend, treffen wir mit vielen Protesilaus, aber mit keinem Philokles zusammen. Adrast, der König der Daunier, ließe sich auch wol noch entdecken. Ich überlasse es
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