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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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sich leicht täuschen kann. Die Sprache des Gesichts ist bei den Völkern eben so verschieden wie die ihres Mundes. Ich warte, bis der Brief völlig vorgelesen ist, und frage den Erzieher, indem ich auf die bloßen Handgelenke seines Zöglings hinweise: »Darf man wissen, was dies bedeutet?« Als der Erzieher wahrnahm, was vorgegangen war, fing er zu lachen an, umarmte seinen Zögling mit offenbarer Befriedigung und gab mir, nachdem ihm Letzterer seine Zustimmung ausgedrückt hatte, die erbetene Aufklärung.
    »Die Manschetten,« erzählte er, »welche Herr John so eben zerrissen hat, sind ihm von einer hiesigen Dame vor Kurzem geschenkt worden. Nun müssen Sie aber wissen, daß Herr John in seiner Heimat mit einem jungen Fräulein verlobt ist, die er innig liebt und welche in der That die höchste Liebe verdient. Jener Brief ist von der Mutter seiner Braut, und ich will Ihnen aus demselben die Stelle übersetzen, welche die Zerstörung, deren Zeuge Sie gewesen sind, verursacht hat.«
    »Lucia läßt die Manschetten für Lord John nie aus der Hand. Miß Betty Roldham brachte den gestrigen Nachmittag bei ihr zu und wollte ihr durchaus bei ihrer Arbeit helfen. Da ich erfuhr, daß Lucia heute früherals gewöhnlich aufgestanden war, wünschte ich zu sehen, was sie eigentlich vorhatte, und fand sie damit beschäftigt, Alles, was Miß Betty gestern gearbeitet hatte, wieder aufzutrennen. Sie will nicht, daß an ihrer Gabe auch nur ein einziger Stich von einer anderen Hand als der ihrigen sei.«
    Als Herr John bald darauf das Zimmer verließ, um andere Manschetten anzulegen, sagte ich zu seinem Erzieher: »Sie haben einen Zögling von vortrefflichem Gemüthe. Indeß, sagen Sie die Wahrheit, ist dieser Brief von Miß Bettys Mutter nicht auf Ihren Antrieb geschrieben? Ist er nicht eine Kriegslist, die Sie selbst gegen diese Dame mit den Manschetten ersonnen haben?« – »Nein,« entgegnete er, »es liegt hier wirklich keine gut gemeinte Täuschung vor; ich habe bei der Lösung meiner Aufgabe keine solche Kunstgriffe nöthig gehabt. Einfachheit und Eifer wußte ich bei meiner Arbeit zu verbinden, und Gott hat sie gesegnet.«
    Der erwähnte Charakterzug dieses jungen Mannes ist nie meinem Gedächtnisse entfallen. Es war nicht anders möglich, als daß er auf einen Träumer, wie ich es bin, einen bleibenden Eindruck ausüben mußte.
    Doch es ist Zeit, zu Ende zu kommen. Laßt uns Lord John zu Miß Lucia, d. h. Emil zu Sophie zurückführen. Mit einem Herzen, das seit seinem Scheiden an Zartheit nichts verloren hat, bringt er ihr einen erleuchteteren Geist zurück, seinem Vaterlande aber gereicht es zum Vortheil, daß er die Regierungen nach all ihren Lastern und die Völker nach all ihren Tugenden kennen gelernt hat. Ich selbst habe es zu veranstalten gewußt, daß er sich in jedem Volke mit irgend einem verdienstvollen Manne durch einen Vertrag der Gastfreundschaft nach Art der Alten verbunden hat, und werde nicht verdrossen darüber sein, wenn er diese Bekanntschaften durch einen regen brieflichen Verkehr zu unterhalten sucht. Ganz abgesehen davon, daß ein solcher Verkehr mit weit entlegenen Ländern nützlich sein kann und stets Annehmlichkeiten gewährt, so ist er jedenfalls ein vortrefflicher Schutz gegen die Herrschaft nationaler Vorurtheile, welche, da wir unser ganzes Lebenlang mit ihnen zu kämpfen haben, früher oder später Gewalt über uns bekommen. Nichts ist geeigneter, ihnen diese Gewalt zu nehmen, als der unbefangene Verkehr mit verständigen und achtungswerthen Leuten, welche uns, da ihnen diese Vorurtheile fremd sind und sie dieselben durch ihre eigenen bekämpfen, so die Mittel an die Hand geben, sie einander unaufhörlich gegenüber zu stellen und uns vor allen zu hüten. Zwischen dem Verkehre mit Fremden, so lange sie sich in unserm Lande aufhalten, und dem Verkehre mit ihnen nach ihrer Rückkehr in die Heimat ist ein wesentlicher Unterschied. Im ersteren Falle beweisen sie stets gegen das Land, in welchem sie leben, eine gewisse Schonung, welche sie ihre wahren Gedanken über dasselbe verhehlen läßt oder sie während der Dauer ihres dortigen Aufenthalts mit günstigen Gedanken erfüllt. Nach ihrer Heimkehr tritt jedoch ein Umschlag ein, was zur Folge hat, daß sie bei ihren Urtheilen nur gerecht sind. Ich würde mich freuen, wenn ein Fremder, mit dem ich Rücksprache nähme, mein Vaterland besucht hätte, aber nach seiner Ansicht über dasselbe möchte ich ihn nur in seinem eigenen fragen.
    Nachdem wir

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