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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Wirkungen, die sie auf das Volk ausübt, ihr wahres Wesen und zwar auf allen Stufen der Verwaltung studirt. Da sich das Abweichende in der Form im Grunde genommen auf alle diese Stufen vertheilt, so kann man es auch nur dann kennen lernen, wenn man sich mit ihnen allen eingehend beschäftigt. In dem einen Lande verräth sich der Geist der Regierung durch das Verfahren der Unterbeamten; in einem andern Lande muß man der Wahl der Parlamentsmitglieder beigewohnt haben, um beurtheilen zu können, ob die Nation frei ist. Was für ein Land es aber auch immer sein möge, so ist es unmöglich, die Regierung kennen zu lernen, wenn man nur die Städte gesehen hat, weil sich der Geist derselben auf Stadt und Land nie in gleicher Weise äußert. Wie das eigentliche Land das Staatsgebiet ausmacht, so bildet auch die Landbevölkerung die Nation.
    Dieses Studium der verschiedenen Völker in ihren entlegenen Provinzen und in der Einfachheit ihres ursprünglichen Geistes läßt uns eine allgemeine Wahrnehmung machen, die für mein Motto im höchsten Grade günstig und für das menschliche Herz sehr tröstend ist, nämlich die, daß alle Nationen bei einer solchen Beobachtung einen viel höheren Werth zu haben scheinen. Je mehr sie sich der Natur nähern, desto vorherrschender ist die Güte in ihrem Charakter. Nur dadurch, daß sie sich in Städte einschließen, daß die Cultur eine Wandelung in ihnen hervorbringt, werden sie schlechter und geben einigen, nicht sowol aus Bosheit als aus ihrer niederen Bildunghervorgegangenen Mängeln den Anstrich angenehmer, aber verderblicher Laster.
    Diese Wahrnehmung lehrt, daß mit der Art zu reisen, welche ich vorschlage, ein neuer Vortheil verbunden ist. Da sich die jungen Leute nur kurze Zeit in den großen Städten, diesen Brutstätten einer entsetzlichen Sittenverderbniß, aufhalten, so sind sie weniger der Gefahr ausgesetzt, von derselben ergriffen zu werden, und bewahren sich unter einfacheren Menschen und in weniger zahlreichen Gesellschaften ein sichreres Urtheil, einen reineren Geschmack und züchtigere Sitten. Für meinen Emil ist übrigens eine solche Ansteckung nicht leicht zu fürchten, da er alle Eigenschaften besitzt, die vor ihr zu schützen im Stande sind. Unter all den Vorsichtsmaßregeln, die ich zu diesem Zwecke ergriffen habe, verdient nach meiner Ansicht die Liebe, die er im Herzen trägt, die erste Stelle.
    Man scheint gar nicht mehr zu wissen, was wahre Liebe über die Neigungen junger Leute vermag, weil die, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, sie eben so wenig kennen und ihre Zöglinge deshalb von derselben abzulenken suchen. Gleichwol aber muß ein junger Mann, wenn er nicht einen ausschweifenden Lebenswandel führen soll, wahrhaft lieben. Man kann sich durch den Schein leicht täuschen lassen. Man wird mir freilich tausend junge Leute anführen, die in dem Rufe stehen, auch ohne Liebe im höchsten Grade keusch zu leben. Aber man nenne mir auch nur einen einzigen älteren Mann, einen wirklichen Mann, der zu behaupten vermag, daß er seine Jugend in der That so verlebt habe, und dem man wirklich Glauben schenken darf. Bei allen Tugenden und allen Pflichten sucht man immer nur den Schein zu wahren. Ich aber, der ich nicht auf den Schein, sondern auf die Wirklichkeit ausgehe, müßte in großer Täuschung befangen sein, wenn es zu ihrer Erlangung noch andere als die von mir angegebenen Mittel geben sollte.
    Der Gedanke, in Emils Herzen noch vor Antritt seiner Reise eine ernste Liebe anzufachen, beruht nicht etwa auf meiner Erfindung. Folgender Umstand hat mir denselben eingegeben.
    Ich stattete in Venedig dem Erzieher eines jungen Engländers einen Besuch ab. Es war Winter, und wir saßen um den Kamin. Während dessen erhält der Erzieher seine Briefe von der Post. Er überfliegt sie und liest darauf einen derselben seinem Zöglinge laut vor. Da er in englischer Sprache abgefaßt war, verstand ich nichts davon, indeß entging es mir nicht, daß der junge Mann während des Vorlesens die sehr schönen Spitzenmaschetten, welche er trug, zerriß und sie eine nach der andern in das Feuer warf, was er so still als möglich that, offenbar, damit man es nicht bemerke. Ueber diesen sonderbaren Einfall verwundert, blicke ich ihm ins Gesicht und glaube wahrzunehmen, daß dasselbe eine Art Rührung verräth. Obgleich nun die äußern Kennzeichen der Leidenschaften bei allen Menschen ziemlich ähnlich sind, so haben dieselben gleichwol nationale Verschiedenheiten, über welche man

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