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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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worden, daß man nichts Besseres thun kann, als diese Beziehungen nach Anleitung jenes Werkes zu studiren. Im Allgemeinen kann man sich über die relative Güte der Regierungen nach zwei leicht erkennbaren und einfachen Anzeichen ein Urtheil bilden. Das eine ist die Bevölkerung. In jedem Volke, in welchem dieselbe abnimmt, geht der Staat seinem Untergange entgegen, während das Land, dessen Bevölkerung im stetigen Wachsthum begriffen ist, unfehlbar, und wäre es auch sonst das allerärmste, unter der besten Regierung steht. [39]
    Dies gilt freilich nur für den Fall, daß diese Bevölkerung eine natürliche Folge der Regierung und der Sitten ist. Denn wäre sie das Ergebniß einer durchgeführten Colonisation oder anderer zufälliger und vorübergehender Mittel, so würde gerade in den Heilmitteln der Beweis für das Vorhandensein des Uebels liegen. Wenn Augustus Gesetze gegen die Ehelosigkeit erließ, so bekundeten diese Gesetze schon den Verfall des römischen Reiches. Die Güte der Regierung muß für die Bürger der Antrieb zur Verehelichung sein, und nicht der Zwang der Gesetze. Nicht auf das muß die Untersuchung gerichtet sein, was die Gewalt zu Wege zu bringen vermag, denn ein Gesetz, welches die bestehenden Verhältnisse bekämpft, läßt sich umgehen und wird schließlich vergeblich, sondern auf das, was sich unter dem Einfluß der Sitten und dem natürlichen Antriebe der Regierung zu entwickeln im Stande ist, denn diese Mittel allein haben eine bleibende Wirkung. Es war die Politik des guten Abbé von Saint-Pierre, für jedes besondere Uebel beständig irgend ein kleines Heilmittel ausfindig zu machen, anstatt bis zur ihrergemeinsamen Quelle zurückzugehen und zu sehen, ob es nicht möglich sei, sie alle auf einmal zu heilen. Es kann nicht die Aufgabe sein, jedes Geschwür, das sich am Körper des Kranken zeigt, für sich allein zu behandeln, sondern die Blutmasse, welche sie alle erzeugt, zu reinigen. In England soll man zur Hebung der Landwirtschaft Preise aussetzen. Mehr bedarf es nicht, um mir den Beweis zu liefern, daß sich England nicht mehr lange durch dieselbe auszeichnen wird.
    Das zweite Anzeichen der relativen Güte der Regierung und der Gesetze bietet gleichfalls die Bevölkerung dar, wenn auch auf andere Weise, nämlich durch ihre Vertheilung, nicht durch ihre Menge. Zwei der Größe und der Einwohnerzahl nach gleiche Staaten können an Macht trotzdem sehr ungleich sein, und der mächtigste von beiden ist immer derjenige, dessen Einwohner am gleichmäßigsten über das ganze Gebiet vertheilt sind. Derjenige, welcher keine so großen Städte hat und folglich weniger Glanz verbreitet, wird regelmäßig den andern im Kampfe besiegen. Gerade die großen Städte sind die Ursache der Erschöpfung und Schwäche eines Staates. Der Reichthum, welchen sie hervorbringen, ist nur scheinbar und trügerisch, zwar viel Geld, aber wenig wirkliches Vermögen. Man behauptet, daß die Stadt Paris für den König von Frankreich den Werth einer ganzen Provinz habe, ich dagegen bin überzeugt, daß sie ihm mehrere kostet, daß sie sich in mehr als einer Beziehung von den Provinzen muß ernähren lassen, und daß der größte Theil ihrer Einkünfte in diese Stadt strömt und in ihr verbleibt, ohne je zum Volke oder zum Könige zurückzukehren. Es ist unbegreiflich, daß in diesem Jahrhundert, in welchem die Rechenkunst in so hoher Blüte steht, Niemand einzusehen vermag, daß Frankreich nach Vernichtung von Paris viel an Macht gewinnen würde. Eine schlechte Vertheilung der Bevölkerung gewährt dem Staate nicht nur keinen Vortheil, sondern ist ihm sogar nachteiliger als die Entvölkerung, in so fern die Entvölkerung als Resultat nur Null gibt, während durch eine schlecht verstandene Anhäufung ein negatives Product hervorgebracht wird. Wenn ich Zeugebin, wie ein Franzose und ein Engländer, voller Stolz auf die Größe ihrer Hauptstädte, darüber streiten, ob Paris oder London mehr Einwohner zähle, so ist es für mich dasselbe, als ob sie darüber stritten, welches von beiden Völkern die Ehre habe, am schlechtesten regiert zu werden.

    Studiret ein Volk außerhalb seiner Städte, denn nur auf diese Weise werdet ihr es wirklich kennen lernen. Die bloße Beobachtung der Allen in die Augen fallenden Form einer Regierung, wie sie sich unter der Hülle des äußeren Prunkes der Verwaltung und nach dem Geschwätze der Regierungsorgane darstellt, ist völlig werthlos, wenn man nicht gleichzeitig nach den

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