Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
redselig gezeigt hat? Erringt er je diesen Vortheil über euch und wird er seines Sieges inne, dann ist es mit der weiteren Erziehung vorbei; von diesem Augenblicke an ist Alles zu Ende; er sucht sich nicht länger zu unterrichten, sondern euch nur noch zu widerlegen.
    O ihr übereifrigen Lehrer, seid einfach, maßvoll, vorsichtig; beeilt euch niemals handelnd einzugreifen, es sei denn, daß es darauf ankommt, das unberechtigte Handeln Anderer zu verhindern. Ich werde es immer von Neuem wiederholen: schiebt, wenn es möglich ist, einen guten Unterricht auf aus Besorgniß, einen schlechten zu geben. Bebet vor dem Gedanken zurück, auf dieser Erde, welche die Natur zum ersten Paradiese des Menschen gemacht hatte, dadurch die Rolle des Versuchers zu spielen, daß ihr der Unschuld die Erkenntniß des Guten und Bösen beibringen wollt! Da ihr doch nicht verhindern könnt, daß sich das Kind durch Beispiele, welche ihm vor Augen treten, belehre, so beschränket eure ganze Wachsamkeit darauf, diese Beispiele seinem Geiste unter dem Bilde einzuprägen, welches demselben am wenigsten Nachtheil bereitet.
    Die heftigen Leidenschaften machen auf das Kind, das Zeuge der von ihnen hervorgerufenen wilden Scenen ist, einen gewaltigen Eindruck, weil die Symptome, in denen sie sich zu erkennen geben, sehr in die Augen fallen und deshalb die Aufmerksamkeit desselben auf sich lenken. Namentlich machen sich die Aufwallungen des Zorns in einer so lärmenden Weise Luft, daß man unbedingt etwas davon bemerken muß, wenn man sich in der Nähe befindet. Man braucht nicht erst lange zu fragen, ob sich hier für einen Pädagogen eine Gelegenheit zeigt, eine hübsche Rede zu halten. Aber nur beileibe keine solche feierlichen Reden! Gar nichts, auch nicht ein einziges Wort darf darüberfallen! Lasset das Kind selbst kommen! Verwundert über die lärmenden Scenen, wird es nicht ermangeln euch zu fragen. Die Antwort ist einfach: es muß sie aus seinen Wahrnehmungen folgern. Es sieht ein erhitztes Gesicht, blitzende Augen, drohende Geberden, es vernimmt heftiges Geschrei, lauter Zeichen, das sich der Mensch nicht in seinem gewöhnlichen Gemüthszustande befindet. Saget ihm ernst, ohne Übertreibung, ohne Geheimnißkrämerei: der arme Mann ist krank, er hat einen Fieberanfall. Ihr könnt dabei die Gelegenheit benutzen ihm, indeß nur in kurzen Worten, eine Idee von den Krankheiten und ihren Wirkungen beizubringen, denn auch diese ruft ja die Natur hervor und sie bilden eines der Bande der Nothwendigkeit, welchen es sich unterworfen fühlen muß.
    Wird sich nicht des Kindes bei dieser durchaus richtigen Vorstellung wahrscheinlich schon frühzeitig ein gewisser Widerwille bemächtigen, sich den Ausbrüchen der Leidenschaften, welche es als Krankheiten betrachten wird, zu überlassen? Und glaubt ihr nicht, daß eine solche bei passender Gelegenheit ihm beigebrachte Vorstellung eine eben so heilsame Wirkung hervorrufen wird als die langweiligste Moralpredigt? Und nun machet euch die Folgen dieser Vorstellung für die Zukunft klar! Ihr erlangt dadurch die Berechtigung, falls ihr je dazu gezwungen werdet, ein eigensinniges Kind als ein krankes zu behandeln, es sein Zimmer, ja wenn es nöthig ist, sein Bett hüten zu lassen, ihm Diät vorzuschreiben, es durch seine sich bildenden Fehler in Schrecken zu setzen und sie ihm verhaßt und furchtbar zu machen, ohne daß es je die Strenge, die ihr vielleicht zu seiner Heilung anwenden müßt, als Strafe ansehen kann. Ja, wenn es euch selbst einmal in einem Augenblicke der Hitze begegnet, eure Kaltblütigkeit und Mäßigung, deren ihr euch befleißigen müßt, zu verlieren, so gebet euch keine Mühe, euren Fehler zu verhehlen, sondern sagt ihm freimüthig, mit einem sanften Vorwurfe: Mein Lieber, du hast mich krank gemacht!
    Außerdem ist es von Wichtigkeit, daß die naiven Aeußerungen, welche ein Kind bei den einfachen Vorstellungen, über die es verfügt, mitunter zum Vorschein bringt, niemalsin seiner Gegenwart gelobt, noch in einer Weise erwähnt werden, daß dasselbe es wieder erfahren kann. Ein dem Kinde grundlos erscheinendes Gelächter kann die Arbeit von sechs Monaten vernichten und einen Schaden anrichten, der im ganzen Leben nicht wieder gut zu machen ist. Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß man, um des Kindes Meister zu sein, sich selbst bemeistern muß. Ich stelle mir meinen kleinen Emil vor, wie er sich mitten in einem Streite, der zwischen zwei Nachbarinnen stattfindet, der wüthendsten

Weitere Kostenlose Bücher