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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Luxusgegenstände darf man darin antreffen. Was meinen Emil anlangt, den ich auf dem Lande erziehe, so wird sein Zimmer nichts enthalten, was es von einer Bauernstube unterscheiden könnte. Zu welchem Behufe es mit so großer Sorgfalt ausschmücken, da er sich nur so wenig Zeit darin aufhalten darf? Allein ich irre mich; er wird es selbst ausschmücken, und wir werden bald sehen womit.
    Hat das Kind, aller eurer Vorsichtsmaßregeln ungeachtet, einige Unordnung hervorgebracht oder irgend ein nützliches Stück zerbrochen, so straft es nicht für eure eigeneNachlässigkeit und scheltet es nicht aus; kein einziges Wort des Vorwurfs darf es von euch vernehmen; laßt es nicht einmal ahnen, daß es euch Verdruß bereitet hat; thut gerade so, als ob das Geräth von selbst zerbrochen wäre; mit einem Worte, seid überzeugt viel gethan zu haben, wenn ihr euch überwinden könnt, nichts zu sagen.
    Soll ich es wagen, an dieser Stelle die erste, wichtigste und nützlichste Regel aller Erziehung auseinander zu setzen? Sie besteht nicht darin, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Verzeiht mir, ihr oberflächlichen Leser, meine Paradoxien; unwillkürlich muß man bei reiflichem Überlegen welche machen, und was ihr auch dazu sagen mögt, ich will lieber für einen paradoxen Mann gelten, als ein Mann voller Vorurtheile sein. Die gefährlichste Zeit des menschlichen Lebens ist die von der Geburt bis zu dem Alter von zwölf Jahren. Das ist die Zeit, in welcher Irrthümer und Laster emporkeimen, ohne daß man bis dahin ein Mittel besäße, sie wieder auszurotten, und wenn sich das Mittel dann endlich findet, so wurzeln dieselben schon so tief, daß man sie nicht mehr herauszureißen vermag. Wenn die Kinder plötzlich von der Brust der Mutter in das Alter der Vernunft hinübersprängen, dann könnte die Erziehung, die man ihnen heute zu Tage gibt, angemessen sein; nach dem natürlichen Entwickelungsgange bedürfen sie aber eine gerade entgegengesetzte. Erst wenn ihre Seele im Vollbesitze aller ihrer Kräfte wäre, sollten die Kinder eine Bethätigung derselben verlangen; denn unmöglich kann sie, so lange sie noch blind ist, den Schein der Fackel, die ihr derselben darbietet, wahrnehmen, und in dem unermeßlichen Reiche der Ideen einen Weg verfolgen, den die Vernunft nur so flüchtig andeutet, daß kaum die schärfsten Augen im Stande sind ihn zu erkennen.
    Die erste Erziehung muß demnach rein negativ sein. Sie besteht nicht in Belehrungen über Tugend und Wahrheit, sondern in der Bewahrung des Herzens vor Lastern und in der Abwehr aller dem Verstande nachtheiligen Irrthümer. Wenn ihr bei der Erziehung nichts thätet und auch Andere nichts thun ließet, wenn ihr euren Zögling gesund und kräftig bis zum zwölften Jahre bringen könntet,ohne daß er im Stande wäre seine rechte Hand von der linken zu unterscheiden, so würden sich ihm vom Beginn eures Unterrichtes an die Augen seines Verständnisses der Vernunft öffnen. Da er ohne Vorurtheile, ohne angenommene Gewohnheiten wäre, würde er nichts an sich haben, was dem Erfolge eurer Bemühungen hinderlich entgegentreten könnte. Bald würde er unter euren Händen der Weiseste der Menschen werden und obgleich ihr anfänglich nichts gethan hättet, würdet ihr trotzdem in erziehlicher Hinsicht ein wahres Wunder gethan haben.
    Thut das gerade Gegentheil der herkömmlichen Erziehung und ihr werdet fast immer das Richtige treffen. Da man aus einem Kinde nicht ein Kind, sondern einen Gelehrten bilden will, so meinen Väter und Lehrer nicht früh genug damit anfangen zu können es auszuschelten, zu bekritteln, zu tadeln, zu liebkosen, zu bedrohen, ihm Versprechungen zu geben, Lehren zu ertheilen und Vernunft zu predigen. Macht es besser. Seid vernünftig und suchet euren Zögling nicht mit Vernunftgründen zu überreden, vor Allem nicht um ihm Gefallen an dem einzuflößen, was ihm mißfällt; denn wenn man in solcher Weise in alle Angelegenheiten, welche ihn unangenehm berühren, stets die Vernunft mit hineinzieht, so macht man sie ihm dadurch schließlich langweilig und lästig und schwächt ihr Ansehen schon frühzeitig bei einem Geiste, der noch nicht im Stande ist, sie zu verstehen. Uebet seinen Körper, seine Organe, seine Sinne, seine Kräfte, aber seine Seele erhaltet so lange wie möglich in Unthätigkeit. Hütet euch ihn mit Ansichten bekannt zu machen, ehe er Verstand genug besitzt, sie zu würdigen. Tretet fremden Eindrücken entgegen und haltet sie von ihm fern, und

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