Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
suchet, um der Entstehung des Bösen vorzubeugen, das Wachsthum des Guten nicht allzusehr zu beschleunigen, denn das kann erst dann erreicht werden, wenn die Vernunft ihn erleuchtet. Haltet jeden Aufschub für einen Vortheil; es ist ein großer Gewinn, wenn man sich ohne zu straucheln dem Ziele nähert. Lasset die Kindheit in den Kindern erst die volle Reife erreichen. Kurz, welche Belehrung sich auch immer bei ihnen herausstellen wird, hütet euch sie ihm heute zugeben, wenn ihr sie ohne Gefahr bis morgen aufschieben könnt.

    Eine Bestätigung der Nützlichkeit dieser Methode ergibt sich aus der weiteren Betrachtung der besonderen Geistesanlagen des Kindes, welche man entschieden kennen muß, um bestimmen zu können, welche moralische Überwachung und Führung ihm angemessen sei. Jeder Charakter hat seine eigenthümliche Haltungsweise, nach der er gelenkt werden muß, und es ist im Hinblick auf den glücklichen Erfolg der Mühe, die man aufwenden muß, von Wichtigkeit, daß er gerade in dieser und keiner andern Weise gelenkt werde. Als ein verständiger Mann mußt du deshalb lange Zeit die Natur belauschen, mußt deinen Zögling genau beobachten, bevor du das erste Wort zu ihm sprichst. Laß erst den Keim seines Charakters in voller Freiheit sichtbar werden, lege ihm nach keiner Richtung hin einen Zwang auf, damit du ihn von Grund aus kennen lernst. Denkst du etwa, diese Zeit der Freiheit sei für ihn verloren? Völlig im Gegentheil, so wird sie am besten angewandt werden, denn nur so wirst du lernen in einer weit kostbareren Zeit nicht einen einzigen Augenblick zu verlieren. Statt dessen wirst du, wenn du zu handeln beginnst, ehe du dir klar bist, was zu thun ist, dich blindlings vom Zufall leiten lassen; mancherlei Täuschungen ausgesetzt, wirst du stets von Neuem anfangen müssen und weiter vom Ziele entfernt sein, als wenn du gesucht hättest es mit weniger Eile zu erreichen. Handle deshalb nicht wie der Geizhals, der, weil er nichts verlieren will, Alles verliert. Bringe im frühesten Alter eine Zeit zum Opfer, welche du in einem vorgerückteren Alter mit Zinsen wiedergewinnen wirst. Ein verständiger Arzt gibt nicht gleich beim ersten Anblick des Kranken in unüberlegter Hast Arzneien, sondern er studirt erst die Natur desselben, bevor er ihm etwas verordnet. Er läßt sich mit der Behandlung Zeit, heilt ihn aber auch dafür, während der zu schnell einschreitende Arzt ihn tödtet.
    Wohin in aller Welt sollen wir aber dies Kind versetzen, um es gleichsam als ein unempfindliches Wesen, als eine Art Automaten zu erziehen? Sollen wir es auf denMond, auf eine wüste Insel bringen? Sollen wir es von allen menschlichen Wesen entfernt halten? Wird es in der Welt nicht unausgesetzt den Anblick und das Beispiel der Leidenschaften Anderer vor Augen haben? Wird es niemals andere Kinder seines Alters sehen? Wird es nicht seine Eltern, seine Amme, seine Wärterin, seinen Diener, vor Allem seinen Erzieher sehen, der doch schließlich auch kein Engel sein wird?
    Dieser Einwurf ist nicht zu unterschätzen. Habe ich euch denn aber gesagt, daß eine natürliche Erziehung ein so leichtes Unternehmen sei? O ihr Menschen, liegt die Schuld denn etwa an mir, wenn ihr Allem, was an sich gut ist, Schwierigkeiten hinzugefügt habt? Ich kenne dieselben wohl, ich gebe sie zu; vielleicht sind sie unübersteiglich; aber so viel steht doch immer fest, daß man bei dem ernsten Streben, sie zu überwinden, sie auch in der That bis zu einem gewissen Punkte besiegt. Ich zeige nur das Ziel, das man sich stellen muß, ich behaupte nicht, daß derjenige, welcher ihm am nächsten kommt, das glücklichste Resultat erzielt hat. [8]
    Seid dessen eingedenk, daß man, ehe man wagen darf die Bildung eines Menschen zu übernehmen, sich erst selbst zu einem Menschen gebildet haben muß. Man muß in sich selbst das Muster finden, das jener sich stets vorhalten soll. So lange das Kind noch ohne Bewußtsein ist, hat man hinreichend Zeit, Alles, was in seine Nähe kommt, zuzubereiten, damit seine ersten Blicke nur auf solche Gegenstände fallen, deren Anblick ihm dienlich ist. Macht euch in Aller Augen achtungswerth, sucht euch zuerst die allgemeine Liebe zu erwerben, damit sich Jeder bemüht, euch zugefallen. Ihr werdet nicht des Kindes Vorbild und dadurch sein Meister sein, wenn ihr nicht zugleich Vorbild und Meister seiner ganzen Umgebung seid und dazu wird euer Ansehen nie hinreichend sein, wenn es nicht auf die der Tugend gebührende Hochachtung

Weitere Kostenlose Bücher