Emil
– [ ] und [ ]
Sie standen alle drei an den Pfosten eines Verkehrsschilds geklammert wie Matrosen an den Schiffsmast. Das Meer lag ganz nahe. Ihn ergriff der starke Drang, hin und ins tiefe Wasser zu gehen, sich von ihm überspülen zu lassen. Das Verkehrsschild wies die Richtung. Er hatte richtig Angst davor, sie anzusehen. Als ob ihr schierer Blick, ihr Gesicht, einen Besitzanspruch markieren würde und auch Schuld, ja, auch Schuld. Obschon – wenn in dieser Geschichte jemand schuldig war, dann
sie
, dachte Joel. Doch ihre Schuld war schon verjährt. Und obgleich zweifellos sie es waren, die das Kind verlassen hatten, während er Emil vor dem Schicksal eines staatlichen Waisenheimes bewahrt, ohne Zögern auf den Jungen gezeigt hatte mit den Worten,
den da
, und das auf der Stelle, ganz so, als hätte er schon vorher entschieden, als gäbe es da nichts mehr nachzudenken, fühlte er sich dennoch schuldig. Wie ein Dieb. Wie –
Sie nannten Vor- und Nachnamen, doch er erfasste sie nicht, musste nochmals danach fragen, und dennoch verblieben die Namen in seinem Kopf wie leere eckige Klammern auf einer Druckseite. Vom Nachnamen behielt er nur den Buchstaben S. Fragte wieder und vergaß sie wieder. Sie zu notieren war ihm peinlich. Ganz gewöhnliche Namen waren es, soviel wusste er noch, beim Mann so etwas wie Avraham oder Moni oder Motti oder Elieser, bei der Frau Rachel oder Malka oder Esther. Als hätten sie es abgesprochen, ließen alle drei den Pfosten los, ruderten mit dem Strom die Jona-Hanavi-Straße abwärts zum Meer, das zwei Minuten entfernt war. Anfangs ging er in einigem Abstand neben ihnen her, doch dann zwangen sie verschiedene Hindernisse auf dem Bürgersteig, eine Mülltonne oder Hundekacke, sich zu vermischen, mal ging er neben der Frau (wie hieß sie bloß? wie hieß sie bloß?), mal neben dem Mann. Man hätte meinen können, ein Wohnungsmakler, der nach gemeinsamer Wohnungsbesichtigung nahe dem Meer mit Kunden über den Preis verhandelt. Rasch wurde es wie ein Tanz zu dritt, ein Straßentango, von Zeit zu Zeit stießen sie leicht aneinander, wie drei Perlen in einer Schuhschachtel in der Hand eines Kindes. Unvermittelt kam ihr der Gedanke, eigentlich sei Joel ihr Mann. Irgendwie kam er ihr vertraut vor. Das Blut stieg ihr in den Kopf, in dem es elektrisch knisterte und flackerte. Und der Mann sah Joel an und dachte genau dasselbe, dass sie, seine Frau, vielleicht mit ihm geschlafen habe. Ihn damals, vor Jahren, betrogen und Emil ihrem Liebhaber überantwortet habe. Eine Verschwörung. Natürlich glaubten sie es nicht wirklich, doch ihre Gedanken rasten und übertrugen sich von Kopf zu Kopf. Und während eines kurzen, genau des gleichen, Moments schien es allen dreien, als ob ihr Emil neben ihnen gehe. Nur, dass sein Emil der Realität fast vierzig Jahre näher war. Während die beiden, die nicht wussten, wie er aussah, sich ihn als Baby vorstellten, über dem Bürgersteig schwebend wie jene Vögel, die einen zuweilen auf dem Weg zum Meer begleiten.
Können Sie uns ein Bild von ihm zeigen?, sagte die Mutter nach langem Zögern. Joel kramte in seiner Brieftasche, holte ein altes Bild hervor, auf dem er acht Jahre alt war. Der Mann holte ein Taschentuch hervor, mit dem er verschütteten Kaffee auftupfte. Nimm, nimm du’s, er konnte es nicht ansehen. Da besann sich Joel, er schlug sich auf die Stirn und holte den iPod hervor, und im Ordner
Emil
löste er die Diashow aus, die er für sie angelegt hatte: vier Bilder pro Jahr, einschließlich eingescannter Bilder ab dem Alter von sieben, 150 Bilder. Alle drei Sekunden wechselte das Bild.
Joel wandte sich zum Meer. Ein phönizisches Schiff mit einer Ladung Zedernholz, das das Meer auf dem Weg von Sur nach Karthago überquerte. Drei purpurne Fahnen hoch oben schlugen ihm in die Augen. Ein Brechreiz überkam ihn.
Auf dem kleinen Display sahen sie ihn größer werden. Er wagte es nicht, sie anzusehen, wie sie mit ernster Miene, trockenen Mundes, die Bilder betrachteten. Deswegen blickte er aufs Meer oder auf den Sand. Zog nervös die weißen Kopfhörer heraus und verstaute sie in der Tasche. Alle paar Sekunden war ein weiteres Jahr um. Nach einigen Minuten war er schon sechzehn, und die Frau sagte: Lassen Sie es zurücklaufen, das habe ich nicht gut gesehen, doch der Mann warf ein: Nein, nicht anhalten, lass es laufen. Armeedienst hat er nicht geleistet, dachte der Vater mit einem kurzen Blick zu ihr hin. Die letzten Bilder erschienen. Joel richtete seine
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