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Emil

Emil

Titel: Emil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Burstein
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Hören Sie mir zu oder nicht? Lassen Sie mich mit Ihnen sprechen, werden Sie mich wohl aussprechen lassen, und mit einem Mal ließ er die Schultern des Mannes los, und der Druck ihrer Hand stieß ihn rückwärts. Er taumelte, schlug sich am Fensterladen an und landete auf dem Boden unter dem Fenster.
    [ ] stand weiter mit schlaff herabhängenden Armen da.
    Eine halbe Stunde später saßen alle drei noch immer da. Sie auf den Stühlen, er auf dem Fußboden in jener Ecke, in die er geflogen war. Er sah nicht mehr sehr gut. Bedeckte voller Scham sein Gesicht. Vermeinte, nie wieder aufstehen zu können. Jede Kraft war aus seinem Körper gewichen. [ ] verließ rückwärtsgehend das Zimmer und kam mit einer gefalteten Wolldecke in der Hand zurück.
    Seien Sie nicht böse auf uns, Joel, sagten sie zu ihm. Wir dachten, Sie wüssten es. Er,
er
ist es doch, der uns nicht will, flüsterte sie. Laut Gesetz bekommt man doch mit achtzehn Jahren Akteneinsicht … ›Vereinigung‹ heißt das. Nun sind schon fast zwanzig Jahre vergangen, und er ist nicht gekommen. Schon 1988 dachten wir, dass er kommen würde, im Kalender hatten wir es uns angezeichnet … umrandet …
    Er hat es ja nicht nötig …
    Haben Sie den Jungen gefragt, bevor Sie zu uns gekommen sind? Sie haben ihn nicht gefragt. Das haben Sie uns doch selbst gesagt, damals am Strand. Dass er von nichts weiß. Begreifen Sie denn nicht? Der Junge will uns nicht. Fast zwanzig Jahre lang sagt er uns das schon Tag für Tag … wie kann es sein, dass Sie das nicht kapieren? Joel hob seinen Blick, sah ihnen in die Augen.

    Danach durchquerte er wortlos, mit schlurfenden Schritten, den Raum, die Zipfel der karierten Decke über der gekrümmten Schulter festhaltend. Hinter ihm schloss [ ] die Tür mit dem Schlüssel ab, sachte, damit er es nicht höre. Als er so hinterm trüben Guckloch Joels Rücken, immer undeutlicher werdend, sich über den Flur entfernen sah, dachte er, wenn er nur die erste Frage gestellt hätte, dann wären alle anderen von selbst hervorgesprudelt. So viele Fragen hatte er, dass er einmal sogar daran gedacht hatte, sie niederzuschreiben. Ein Heft voller Fragen. Wie denn die Jahre vergangen seien. Nicht jede Minute, nicht jede Woche wollte er wissen, nein, nur in großen Zügen … Als Baby. Und als Kleinkind. Als Kind. Als Junge in der Pubertät. Ob ihm das Leben schwerfalle. Wann man ihm erzählt hatte, dass er, nun ja, ein ›Adoptivkind‹ sei. Wie er darauf reagiert hatte. Ob er zornig geworden war. Ob er noch immer zornig sei. Was man ihm über sie erzählt hatte. Wie man es ihm erklärt hatte. Ob er Kinder hatte. Das heißt, ob sie Enkel hatten, von denen sie nicht einmal die Namen kannten. Und noch vieles, vieles mehr. Doch sein Auge am Türspion hatte sich schon geschlossen, und Joel war schon lange am anderen Ende des Hausflurs verschwunden. Als [ ] wieder hinter sich zum Zimmer hin blickte, sah er, dass auch sie nicht mehr da war. Sie war hineingegangen. Er war allein. Die ganze Zeit hielten seine Finger den im Schloss steckenden Schlüssel umklammert.
    Am Ende des Korridors blieb Joel stehen, drehte sich halb um. Wenn sie nur ein Wörtchen gesagt, ihn nur gefragt hätten, sogar von weitem aus der Tür, wenn sie die Tür nur einen Augenblick wieder öffneten, würde er ihnen zurufen, vielleicht fällt Ihnen eine solche Nähe schwer, das kann ich nachvollziehen, vom Ende des Korridors würde er ihnen alles erzählen, ihnen nichts verheimlichen. Meine Erinnerungen sind die Ihren, wollte er ihnen sagen, wie ich mich freue, dass Sie danach gefragt haben, daran kann ich mich genau erinnern … und er würde geradeheraus alles erzählen, in großen Zügen, und um nicht wehzutun, alles auslassen, was besser ungesagt bleibt. Haben Sie keine Angst, würde er ihnen zurufen, und sie würden ihm schließlich die Tür wieder öffnen, eng aneinander gedrängt dastehen, ich meine, wir müssen alles vergessen, wollte er sagen, auf dem Hausflur, den Blick auf die geschlossene Tür gerichtet, und rief: Ich sage, wir müssen alles vergessen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem schrecklichen Grinsen, und mit dem Rücken voran verschwand er aus dem Blickfeld des trüben Spions.
    Diesmal fuhr Joel mit dem Lastenaufzug hinunter, den er im rückwärtigen Teil des Gebäudes entdeckt hatte. Er hatte sich auf eine große, niedrige Kiste gesetzt. Im Aufzug hing ein starker Duft nach Orangen. Die Vögel umschwirrten die Kronen der Orangenbäume, sie schob die Gardine etwas

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