Emil
auf, die Einspielung eines Konzerts von Jacqueline du Pré und Daniel Barenboim. Joel und Lea waren dabei gewesen, 1970 in Edinburgh.
Sie sind verheiratet, weißt du, sagte er und legte die andere Seite auf.
Auch wir, antwortete sie aus dem Lehnsessel seinem über den Plattenspieler gebeugten Rücken.
Er drehte sich um und sah sie an, wie sie mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Sessel gelehnt, der Klänge harrte. Aus den Lautsprechern kam das Rauschen der Nadel. Es schien, als würden Cello und Klavier nie ertönen, nur dieses Rauschen, Botschaften entfernter Zivilisationen gleich, die, mit empfindsamen Geräten aufgefangen, über altmodische Radiowellen ihre Geschichten murmelten.
Sie waren bei diesem Konzert gewesen. Hatten nicht einmal gewusst, dass es aufgezeichnet wurde. Ob Emil dabei war? Nein. Emil war damals im Bauch von [ ] in Jaffa und hatte diese Klänge nicht gehört. Doch später würde er die Platte hören.
Es war Joels Husten, das im ersten Satz der Sonate in g-Moll, circa fünfeinhalb Minuten nach Beginn, zu hören war. Ein schwerer Winter war es. Man hatte ihn nach Schottland zu einer Tagung über unterirdische Straßentunnels geschickt. Lea hatte nicht allein bleiben wollen. Und ihn erwischte die Grippe.
Mit jedem weiteren Ton wurde ihnen ihr Versagen als Paar bewusster. Sie würden nie ein Kind haben. Erst dreiunddreißig, und schon war der Familienbrunnen durch einen Stein verschlossen. Dabei wünschten sie es sich sehr. Wussten sogar, wie sie ihn nennen würden: Gil. Und die Enttäuschung ihrer Eltern. Jemand nieste, und Husten antwortete. In ganz Schottland grassierte 1970 die Grippe. Doch Jacqueline du Pré und Barenboim waren völlig im Spiel versunken und schienen die Geräusche nicht wahrzunehmen. Die einzig Gesunden in einem Saal voller Kranker, hatte Lea damals gedacht. Und Joel hatte gedacht, die Töne kämen gerade recht. Um das Gehuste einzudämmen, zu lindern und zu heilen. Trotz des schweren Winters in Schottland waren die Kranken aufgestanden, um das Musikerpaar und Beethoven zu hören. Und tatsächlich machte sie die Musik ganz gesund.
Als die Schallplatte einige Jahre später erschienen war, hatte Lea sie Joel zum siebenunddreißigsten Geburtstag gekauft. Als er aufwachte, schien die Sonne durch die Gardine, kitzelte ihn an der Nase, zwei Sekunden später gab er einen kurzen Schrei von sich und nieste laut. Mitten in der Sonate war er im Sessel eingeschlafen. Die Platte war zu Ende. Und Lea nicht mehr im Wohnzimmer.
Samstagmittag. Nichts eilte. Er stand vom Sessel auf. Ging barfuß zum Bett. Durch die Tür zum kleinen Zimmer hörte er sie etwas zum Kind sagen. Er legte kurz seine Hand auf die Türklinke. Ohne sie hinabzudrücken. Spitzte seine Ohren, um dem durch die Tür gefilterten Gespräch zu lauschen. Seine Finger strichen sachte über die Klinke.
Im Spiegel erblickte er sein Gesicht. Die geschlossene Tür. Ein Lichtstreifen. Lea stand da, sah ihm zu, wie er sich ansah. Dem vierjährigen Jungen, der auf sein Spiegelbild zeigte mit den Worten: Das bin nicht ich. Sie erschrak und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Obgleich sie vereinbart hatten, ihm bis zum Alter von sechs Jahren nichts zu erzählen, würde sie es ihm gleich erzählen.
Wortfetzen drangen an Joels Ohr.
Vor vier Jahren. Vier Jahren? Vier Jahren. Dein Vater und ich. Wir sind nach Schottland gefahren. Nein, in Edinburgh. Es war kalt dort. Schnee? Nein. Wie jetzt? Nein. Bitterkalt. Wir sind ins Konzert gegangen. Da wurde schöne Musik gespielt. Cellomusik. Was ist Cello?
Habt ihr mich bei Opa Amikam gelassen? Nein. Bei wem denn?
Wir konnten damals nicht … Wir konnten dich damals nicht allein auf die Welt bringen. Und heute? Heute könnt ihr es schon? Du … und ich bin nicht hineingeschlüpft? Ja, so kann man es sagen. Dass es uns nicht gelungen ist, dich einzupflanzen. In den Bauch? In den Bauch. Hier.
Aber wir wollten es. Nur dich. Wir wollten dich schon in die Arme schließen. Also sind wir hingegangen. Zusammen? Zusammen. Anderswo hin. Wo man Kinder austeilt. Wo wir dich bekommen konnten. Wir sind hineingegangen und haben gefragt, wo ist Emil? Hier wartet ein Kind auf uns. Er … ist ich? Du.
Du warst dort. Gestern geboren. Gestern von damals aus gesehen. Du hattest zwei … Eltern. Nein, ich weiß nicht, wer. Wir dürfen es nicht wissen. Nein. Auch ihren Namen nicht. Sie … ich weiß nicht warum. Sie konnten nicht die Verantwortung für ein Kind übernehmen. Vielleicht … vielleicht
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