Emil
und weiter hinab reichte der Blick nicht. Ein Mann trat an sie heran und bat wortlos um den Kanister für seine Blumen.
Joel – Lea – Emil
Sie waren vom Friedhof zurückgekehrt, die letzten Besucher waren nun gegangen, hatten über die Treppe hinab den Weg nach Hause eingeschlagen, den Fernseher eingeschaltet, saßen nun gähnend vor dem Bildschirm, um irgendwie die Beklommenheit des Begräbnisses von sich abzuschütteln, und hier das Kind, noch keine sieben Jahre alt, das mit dem Vater allein zurückgeblieben war. Da stieg in ihm zum ersten Mal dieser Zorn, dieser bittere Groll auf. Allerlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf, vor allem, dass er sich von nun ab alleine um alles würde kümmern müssen. Alles lastet auf mir, dachte er. Alles lastet auf mir. Dabei wusste er nicht einmal, wie man ein Schulbrot schmiert. Und was zu tun wäre, wenn er Fieber bekäme. Und welche Hosengröße er hatte. Und wie die Klassenlehrerin hieß. Und wie der Stundenplan aussah. Wann die Schule jeden Tag aus war. Wo fand doch der Kurs für Modellflugzeugbau statt, an dem der Junge teilnahm? Welche Zahnpasta verwendete er? Wo war der Impfausweis? Um das alles hatte sie sich gekümmert. Jetzt musst du das alles lernen, dachte er.
Er wollte nicht lernen. Er wollte nichts wissen.
In der ersten Nacht träumte er, dass ihm jemand auftrug, ins Gymnasium zurückzukehren. Als er eintrat, brüllte ihn der Direktor an, er habe einen Tisch lautstark verschoben. Und das sei verboten. Er hatte es nicht gewusst. War aber zu stolz, es dem Direktor zu sagen. Also verpasste man ihm Prügel, stieß ihn die Treppe hinab, jawohl, in der Schule war das, vergrub ihn in der Bibliothek.
Das Problem war, dass ihm das nicht
sein Leben
zu sein schien.
Sein Leben
war es gewesen, als sie noch lebte. Und das Kind. Das war in Ordnung. Das hatte seine Richtigkeit. Aber Leas Tod? Nein. Das passte nicht in sein Leben hinein. Als habe man ein Bild geschenkt bekommen und wolle es nicht aufhängen, könne es aber auch nicht wegwerfen. Er war durchaus bereit, täglich nach der Arbeit ein bisschen mit Emil zusammen zu sein. Aber nicht den
ganzen
Tag. Nein, nein, dachte er. Das nicht. Kommt nicht in Frage. Und er wartete darauf, dass jemand käme und dieses Gewicht von ihm nähme. Dass er wieder leben könne wie zuvor. Ein einfaches Leben. Morgens ins Büro, Straßen und Autobahnbrücken planen. Dann Mittagessen. Um fünf Uhr dreißig hatte er alles beiseitegelegt und um fünf Uhr vierzig die Buslinie 7 genommen. Vier Haltestellen nur, und vor sechs war er bereits zu Hause gewesen. Dazu war er bereit.
Ein frommer Arbeitskollege sagte ihm, wenn der Mond nicht um die Erde kreiste, würde diese von der Bahn abkommen und das ganze System aus dem Gleichgewicht bringen, und zum Schluss würden wir zur Sonne hingezogen werden, in sie hineinfallen und verglühen. Wie ein Gegengewicht ist das, hatte der Mann gesagt. Und Joel entgegnete ungeduldig, Warum erzählst du mir das? Und der Fromme sagte, Man hat dir den Mond weggenommen.
Später sollte er begreifen, dass man ihm nicht den Mond genommen hatte, sondern dass es ein anderer Mond war.
Jedoch sollte es noch ein schweres halbes Jahr dauern, bis der Mond wieder in seinem Leben aufging. Besser gesagt, bis er diesen Mond entdecken würde, der nicht leuchtete, obgleich ihn keine Wolke verhüllte. Vielmehr, sehr wohl leuchtete, doch ohne dass Joel sein Licht bemerkte.
Die letzten Trauergäste waren gegangen. Es war der sechste Tag der Schiwa. Am nächsten, dem siebten Tag, würde niemand mehr kommen. Joel warf das Klofenster zu und betätigte die Spülung. Öffnete die Tür. Emil saß da, den Rücken an die Wand gelehnt, und las in einem Comic-Heft. Aufblickend sagte er: Ich muss auch. Und Joel sagte: Warum hast du nichts gesagt, ich wäre früher herausgekommen, und fügte hinzu, Das Papier ist alle. Ich bring dir welches, und ergriff die braune Papprolle, um sie in den Müll zu werfen. Was liest du da?, fragte er. Um ihn zu erheitern, nahm er ihn durch die Papprolle ins Visier.
Emil hob den Kopf aus dem Heft und es war, als blicke er durch den Vater hindurch in die Toilette hinein. Er lachte nicht. Joel verfing sich in Emils glasigem Blick. So erstarrten sie einen Augenblick lang einander gegenüber. Bis Joel sich fasste und sich umdrehte, um das Fenster zu öffnen. Und dann sah er sie auf dem Ablagebord liegen, die rosarota Tamponpackung.
Joel – Lea – Emil
Er legte die Schallplatte mit Beethovens Cellosonaten
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