Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
bestürzt und verbittert. Es ist nicht von vornherein klar, was sie sich von der Unterredung mit dem Prinzen verspricht. Sie vermutet, dass sie von dem Prinzen seit dem Augenblick verachtet wird, in dem er merkte, dass sie nicht nur lachen, sondern auch denken will. Sie vermutet: »Ein Frauenzimmer, das denket, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminket« (IV,3). Unter diesen Umständen kann es ihr nicht darum gehen, die Liebe des Prinzen zurückzugewinnen. Eher ist ihr zuzutrauen, dass sie längst einen »Frevel« (IV,3) geplant hat.
Als Orsina dann die Zusammenhänge durchschaut, die zu Graf Appianis Tod und zu Emilia Galottis Entführung gehören, sucht sie einen, der »das ganze Heer der Verlassenen« an dem »Verführer« (IV,8) rächt. In Odoardo sieht sie einen Verbündeten, dem sie vertrauensvoll einen Dolch überreicht. Damit wird deutlich, dass »die betrogene, verlassene Orsina« (IV,8) in Dosalo nicht Aussöhnung suchte, sondern eine Gelegenheit sich zu rächen.
Orsina durchschaut am deutlichsten von allen Personen die verbrecherischen Machenschaften am Hof. Sie erkennt als Erste in dem Prinz den »Mörder« und in Marinelli den »Teufel« (IV,5). Marinelli beschwört Odoardo vergeblich, nichts auf Orsinas Reden zu geben, da es »mit deren Verstande« (IV,6) nicht recht bestellt sei. In einem ganz anderen Sinn gibt Orsina Marinelli Recht, wenn sie sagt: »[…] wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren« (IV,8). Das, was an diesem einen Tag am Hof des Fürsten Hettore Gonzaga geschah, genügt, um den Verstand zu verlieren.
Camillo Rota steht als »Rat« in Diensten des Fürsten. Er ist bürgerlicher Herkunft und als Beamter mit einem Aufgabenbereich betraut. Er hat bei den Regierungsgeschäften zu helfen, nämlich Bitten und Eingaben zu prüfen, Entscheidungen vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass getroffene Entscheidungen ausgeführt werden. Dagegen hat er selbst keine Entscheidungsgewalt.
In Camillo Rota hat man einen sorgfältigen, bedächtigen, verantwortungsvollen, wohl schon älteren und abgeklärten Rat vor sich, der im angemessenen Umgang mit dem Fürsten geübt und in der Sache kompetent ist.
Conti, der Maler, ist freier Künstler, gehört dem Bürgerstand an, arbeitet offensichtlich gern für den Hof und für den Fürsten, ist jedoch kein fest angestellter Hofmaler. Er ist darauf bedacht, vor dem Prinzen die Rolle des Künstlers in angemessenem Licht erscheinen zu lassen. Dabei gibt er zu, dass »die Kunst […] nach Brot« (I,2) geht. Seinem Mäzen gibt er genaue Einblicke in die Probleme künstlerischen Schaffens, ohne dass er sicher sein kann, verstanden zu werden.
Odoardo Galotti ist eine am Hof und im Fürstentum bekannte Persönlichkeit. Der Prinz erklärt Marinelli: »Das Geschlecht der Galotti ist groß« (I,6). Odoardo hatte den Rang eines Obersten, ehe er aus dem Dienst schied; er wagte es, dem Fürsten zu widersprechen und sich dessen »Ansprüchen auf Sabionetta« (I,4) zu widersetzen. »Er ist mein Freund nicht«, gibt der Prinz zu, versagt ihm aber nicht die Anerkennung: »Ein alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut!« (I,4). Von Claudia, seiner Ehefrau, wird Odoardo ähnlich eingeschätzt. Auch sie weiß, dass der Fürst »des Vaters Feind« ist; sie preist oder kritisiert ihn ob »der rauen Tugend«; in ihrem Ausruf »Welch ein Mann!« ist wahrscheinlich ebenso viel bewundernde Anerkennung wie indirekt geäußerte Kritik enthalten (II,5).
Odoardo geht ganz in der Rolle des Familienvaters, genauer des Kindesvaters auf. Seine ganze Sorge gilt seiner einzigen und geliebten Tochter Emilia. Er selbst wohnt getrennt von der Familie auf einem Landgut in Sabionetta, seit sich seine Frau Claudia mit der Vorstellung durchgesetzt hat, dass eine standesgemäße Erziehung der Tochter und eine Aussicht auf eine günstige Heirat nur in der Stadt gegeben seien. Odoardo misstraut – im Gegensatz zu seiner Frau – der Stadt und dem Leben am Hof grundsätzlich. Er hält »das Geräusch und die Zerstreuung der Welt« für gefährlich und glaubt, dass »Unschuld und Ruhe« nur auf dem Land zu bewahren und zu gewinnen seien (II,4). Seine Sorge und sein Argwohn sind so groß, dass er fürchtet, jeder Schritt könnte zum »Fehltritt« (II,3) werden. Wenn er seine Frau und seine Tochter in der Stadt besucht, geschieht das weniger aus Liebe als aus dem Bedürfnis nach Kontrolle. Als Claudia berichtet, dass der Prinz über Emilia »mit so
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