Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
vielen Lobeserhebungen gesprochen« habe, steht für ihn fest: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt« (II,4). Nur mit Mühe unterdrückt er Zorn, Wut und Empörung und bricht den Besuch ab, ehe er Emilia gesehen hat.
Als übertrieben scheinen die Sorgen und die Reaktionen des Vaters und man ist geneigt, ihn für einen gänzlich patriarchalisch denkenden Haustyrannen zu halten, bis durch die Entführung Emilias deutlich wird, dass die schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit geworden sind. Odoardo stellt sich den Absichten des Prinzen entgegen und bezweifelt, dass »der hier alles darf, was er will« (V,4). Er ist erleichtert, als er von Emilia hört, dass sie sich eher den Tod wünscht als ein Leben in »Schande« (V,7). Dass er als Vater seine Tochter töten muss, um sie vor der Schande und vor den »Lasterhaften« (V,7) zu bewahren, macht seine Tragik aus.
Als »unglücklicher Vater« (V,8) steht Odoardo am Schluss da. Unerreichbar hat sich die Vorstellung erwiesen, dass seine Tochter als Ehefrau des Grafen Appiani fern vom Hofleben auf dem Land ihr Glück machen könne. Um den Preis des irdischen Lebens hat er Emilia – gemäß seiner und seiner Tochter Überzeugung – das ewige Leben gesichert. Dennoch muss er sich fragen lassen, ob er mit seiner Rigorosität und seiner Impulsivität seine Tochter in angemessener Weise auf das Leben in dieser Welt vorbereitet hat.
Das grundsätzliche Misstrauen gegen den Hof und die rigorose Ausrichtung auf die Tugendideale haben seine Menschenkenntnis nicht verbessert, sondern geschwächt. So vorbehaltlos er für seinen zukünftigen Schwiegersohn Graf Appiani schwärmt, so grundsätzlich ist er gegen jeden eingestellt, der in Hofdiensten steht. Dass das Haus des Kanzlers Grimaldi eine Lasterhöhle ist, steht für ihn fest, ohne dass es Beweise gäbe. Seiner Frau traut er kein Urteilsvermögen zu. Höchst unsicher ist er in Bezug auf Emilia: Als die Gräfin Orsina zu überlegen gibt, ob Emilia nicht freiwillig mit dem Prinzen gemeinsame Sache mache und mit der Beseitigung des Bräutigams einverstanden sei, hält er das einen Augenblick für möglich. Er merkt nicht, wie er von der Gräfin, die ein Rachewerkzeug sucht, in eine Falle gelockt wird.
Odoardo, der in seinem Haus so stark auftritt, wirkt seltsam unsicher und ungeschickt, wenn er am Hof erscheint. Sein offensichtlich anerzogener Respekt vor der Obrigkeit veranlasst ihn zu unterwürfigem Verhalten sogar Marinelli gegenüber. Im Gespräch ist er weder Marinelli noch dem Prinzen gewachsen. Um seine Tochter Emilia retten zu können, wären Selbstvertrauen, Mut und Tatkraft notwendig. An all dem fehlt es ihm.
Die Tötung seiner eigenen Tochter hält er für eine unglückselige, aber notwendige Tat. Er liefert sich »selbst in das Gefängnis« (V,8) und entfernt sich damit endgültig aus dieser Welt. Dagegen wird er »vor dem Richter unser aller« (V,8) selbstbewusst auftreten, weil er fest davon überzeugt ist, sich angesichts des letzten Gerichts nichts vorwerfen zu müssen.
Claudia Galotti lebt mit ihrer Tochter Emilia »fern von einem Manne und Vater, der euch so herzlich liebet« (II,4), in der Residenzstadt Guastalla. Sie will ihrer Tochter in der Stadt und in der Nähe des Hofes »eine anständige Erziehung […] geben« und sieht ihren Plan dadurch bestätigt, dass Graf Appiani hier Emilia »fand« und nun heiratet (II,4).
Claudia ist gläubig, unterstützt Emilia in dem Vorsatz, am Morgen der Hochzeit die Messe zu besuchen, ist jedoch nicht von der Strenge und Rauheit ihres Gatten. Sie liebt ihre Tochter und muss sich zurechtweisen lassen, als sie angesichts der bevorstehenden Hochzeit klagt, »diese einzige geliebte Tochter« (II,4) zu verlieren. Sie ist stolz darauf, dass der Prinz »gegen sie so gnädig« war und »von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen« (II,4) hat.
Während ihr Mann übertrieben misstrauisch ist, scheint sie vertrauensselig zu sein. Claudia hat eine andere Vorstellung von den Menschen ihrer Umgebung und eine andere Einstellung zu den Tugendbegriffen. Das aufdringliche Verhalten des Prinzen gegenüber Emilia hält auch sie für einen Frevel. Doch kann sie in dieser Angelegenheit nichts Strafbares bei sich und auch nicht bei ihrer Tochter erkennen. Es macht sie nicht stutzig, dass ihre Tochter eben nicht »mächtig genug« war, dem Prinz »in einem Blick alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdient« (II,6). Geradezu fatal ist ihr Vorschlag, weder dem Vater
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