Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
sie auswärtige Gäste und machten Aufwartungen an fremden Höfen. Sie waren an der Gestaltung des Hoflebens entscheidend beteiligt und meist über alles und jeden genau informiert.
Marquese Marinelli darf als die rechte Hand des Prinzen angesehen werden. Der Prinz lässt ihn am frühen Morgen rufen, sich von ihm berichten und raten und weiht ihn in seine persönlichen Dinge ein. Doch sieht er in ihm keinen Freund – »O ein Fürst hat keinen Freund! Kann keinen Freund haben!« (I,6) –, sondern einen besonders treuen und zuverlässigen Diener. Er begibt sich ganz in seine Hand – in dem Augenblick, in dem er ihm genehmigt, alles zu tun, was dazu beiträgt, ihm, dem Prinzen, Emilia Galotti zuzuspielen.
Dem Marquese kommt dieser Auftrag entgegen. Er ist einerseits enttäuscht, vom Fürsten nicht als Freund eingeschätzt zu werden; andererseits ist er als Höfling darauf aus, möglichst viel Macht am Hof und einen möglichst großen Einfluss auf das Denken und Handeln des Fürsten zu gewinnen. Dabei kommt ihm zugute, dass er einen eigenen persönlichen Diener hat und dass er über Kontakte zu Leuten aus der Unterwelt verfügt, die gegen angemessene Bezahlung für Mord und Entführung zu haben sind. Kein anderes Interesse hat Marinelli, als seinem Herrn alle Möglichkeiten zu eröffnen, an das Ziel der geheimsten Wünsche zu gelangen. Der Plan, der Emilia zugänglich machen soll, indem der Bräutigam durch einen amtlichen Auftrag gebunden wird, ist zwar gemein, aber nicht kriminell. Als dieser erste Streich jedoch misslingt, schreckt Marinelli aber auch vor Kapitalverbrechen nicht zurück.
Moralische Bedenken scheint Marinelli nicht zu kennen. Er versteht die Skrupel des Prinzen in Dingen der Liebe nicht und meint, dass »neben so einer Gemahlin […] die Geliebte noch immer ihren Platz« haben könne und dass Emilia auch verheiratet noch erreichbar sei: »Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der zweiten« (I,6). »Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang« (I,6), nämlich Emilia Galotti, ist für Marinelli ohne Reiz und Wert. Geradezu zynisch ist seine Frage an Appiani, ob sich die anberaumte Hochzeit nicht aufschieben lasse, ob – so ist der nicht geäußerte Verdacht – etwas »Unangenehmes« (II,10) vorliege.
Während Marinelli weder vor Lügen und Intrigen noch vor kleinen und großen Verbrechen zurückschreckt, achtet er sorgfältig auf höfische Etikette und angemessene Sprachformen. Die Vorwürfe Claudias, der verzweifelten Mutter, tut er ab: »Sie schwärmen, gute Frau.« Und er fügt vorwurfsvoll hinzu: »Aber mäßigen Sie wenigstens Ihr wildes Geschrei und bedenken Sie, wo Sie sind« (III,8). In ähnlicher Art weist er Odoardo zurecht. Nur Orsina kann er auf diese Weise nicht beeindrucken. Für sie ist Marinelli ein »nachplapperndes Hofmännchen« (IV,3). Sie schätzt den Kammerherrn ähnlich ein wie Graf Appiani, für den der Marquese »ein ganzer Affe« (II,10) ist.
Und doch ist mit diesen Charakterisierungen noch nicht das ganze Urteil gesprochen. Dem Prinzen bleibt es vorbehalten, am Ende zu erkennen, dass der, der sein »Freund« sein wollte, in Wahrheit ein »Teufel« (V,8) war. Teuflisch war schon seine Empfehlung, von der »Gewalt« Gebrauch zu machen, in deren Besitz er als »Herr« sei, um Emilia zu gewinnen (I,6). Teuflisch ist das Unternehmen, durch das zwei unschuldige Menschen umkommen und das Claudia, die Mutter Emilias, zusammengefasst »Bubenstück« (III,8) nennt.
Gräfin Orsina war bis vor kurzer Zeit die Geliebte des Prinzen. Dieser gibt zu, er »habe sie zu lieben geglaubt, […] vielleicht sogar wirklich geliebt« (I,1); doch das sei vorbei. Ein Grund für den Wechsel der Empfindungen wird nicht genannt. Orsina ist Opfer der Lust und der Laune des Fürsten, ist beiseite geschobener Spielball des Prinzen.
Als Gräfin gehört Orsina dem Adel an. Sie scheint hochgebildet und selbstbewusst zu sein. Sie hat genug Verstand und Erfahrung, um zu durchschauen, was am Hof gespielt wird. Aber sie ist nicht bereit, sich so ohne weiteres wegschieben und abdrängen zu lassen.
Deshalb hat sie Kundschafter angestellt, die den Prinzen beobachten sollen, und brieflich um eine persönliche Aussprache mit ihm gebeten. Obwohl sie sich von Marinelli, dem Kammerherrn, den sie zu dem »Hofgeschmeiß« (IV,3) zählt, nicht abweisen lässt, gelingt es ihr trotzdem nicht, bis zum Fürsten vorzudringen, da dieser jeder Aussprache aus dem Weg geht.
Orsina ist zugleich
Weitere Kostenlose Bücher