Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
gewinnen, bedarf es der Intrigen seines Kammerherrn Marinelli, der sich dazu bereitwillig zur Verfügung stellt. Während dieser Marinelli seinen Plan ausheckt, versucht der Prinz noch einmal, eine persönliche Begegnung zu arrangieren: Er lauert ihr in der Kirche auf, flüstert ihr gegen jede Sitte und gegen jeden Anstand sein Liebesgeständnis zu und versucht, sie nach der Messe auf dem Kirchplatz zu sprechen. Aber dies wird von Emilia keineswegs als galantes Gerede, sondern als so unerhörter Angriff empfunden, dass alle Bemühungen des Prinzen nun aussichtslos sind, Emilia auf höfliche Art von seiner Liebe zu überzeugen. Nur das »Bubenstück« Marinellis bringt Emilia in die Nähe des Prinzen.
Indem sich der Prinz seines Kammerherrn, des Marquese Marinelli, als Handlanger bedient und ihm alle Handlungsfreiheiten gewährt, ihm sogar zusichert, alle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, macht er sich schuldig. Er, der sich um jeden Preis in den Besitz Emilias bringen wollte, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen, wird nun vor der Welt als der eigentliche Mörder des Grafen Appiani dastehen, obwohl dieser Mord allein das erklärte Ziel Marinellis war. Der Prinz, der nach eigenem Eingeständnis nichts »gegen kleine Verbrechen« hat, ist letzten Endes Urheber des Verbrechens, bei dem Graf Appiani, der Bräutigam Emilias, und Nicolo, der Helfershelfer Marinellis, umkommen. Indirekt ist er auch der Urheber von Emilias Tod, die von ihrem Vater erstochen wird, um der Schmach zu entgehen. Die Zerstörung der Familie Galotti geht ganz zu seinen Lasten.
Die Abhängigkeit des angeblich souveränen Prinzen ist größer, als zunächst deutlich wird. Er ist nicht in sich gefestigt, vielmehr seinen Begierden und Leidenschaften ausgeliefert. Er ist auf seine Räte, seinen Kanzler, den Schatzmeister und die Bedienten angewiesen. Während er jedoch in Camillo Rota einen Rat hat, der ihn vor Unbedachtsamkeiten bewahrt und ihn vor seiner eigenen Leichtfertigkeit schützt, gerät er dadurch, dass er seinem Kammerherrn vertraut und ihn selbstständig planen und handeln lässt, in die schlimmsten Verstrickungen. Der Prinz selbst weicht jeder Auseinandersetzung aus: Er verweigert der Gräfin Orsina eine Unterredung; er fürchtet die Konfrontation mit Odoardo; er traut sich nicht, die ins Lustschloss gebrachte Emilia »wieder anzureden« (III,3), und überlässt auch das Marinelli. Er macht sich zu spät klar, dass er vor der »Mutter«, vor »Emilia« und vor der »Welt« als der eigentliche »Täter« dastehen wird und dass man Marinelli, der den Plan hatte, und Angelo, der den Schuss auf den Grafen abgab, nur als »Werkzeug« (IV,1) ansehen wird. Dieser Fürst ist schwach, empfindsam und galant, aber nicht fähig, Verantwortung zu übernehmen.
Als Alleinherrscher, der nicht an Gesetze gebunden ist und keinem Parlament Rechenschaft schuldig ist, ist er im staatsrechtlichen Sinn ein Tyrann. Nicht allein Brutalität und Gewaltherrschaft machen einen Tyrannen aus, sondern jene Art der Willkürherrschaft, die vorzüglich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Am Ende kommt der Prinz zu der Einsicht, dass es »zum Unglücke so mancher« ist, »dass Fürsten Menschen sind« (V,8). Er mag dabei erkennen und bedauern, dass seine Liebe zu Emilia, als menschliche Schwäche gedeutet, Emilia und ihre Angehörigen ins Unglück gestoßen hat. Dabei verkennt er allerdings, dass es sein Vorsatz war, sie um jeden Preis zu besitzen, und dass seine Möglichkeiten, dies mit Hilfe seiner Werkzeuge gegen Gesetz und Anstand tun zu können, es waren, die ihn als Menschen disqualifiziert und als Tyrannen bloßgestellt haben. Diese Einsicht fehlt, sein Selbstmitleid ist lediglich ein Beleg für seine Uneinsichtigkeit.
Marinelli – der Kammerherr. Als Marquese gehört Marinelli dem Adel an. Die italienische Bezeichnung, die auf das deutsche Wort Markgraf zurückgeht, ist mit dem deutschen Grafen-Titel zu vergleichen. Vom Prinzen wird Marinelli ohne Titel angeredet; im Umgang mit Leuten niedrigeren Standes besteht der Marquese auf korrekter Anrede mit Titel (III,8).
Am Hof übt er die Rolle eines Kammerherrn aus. An fürstlichen Höfen der damaligen Zeit war es durchaus üblich, dass der Souverän Adlige als Kammerherrn um sich hatte, die zu Diensten aller Art herangezogen werden konnten. Sie ordneten den Tageslauf des Fürsten und begleiteten ihn bei Dienstgeschäften und bei allen Veranstaltungen des Hofes. In seinem Namen empfingen
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