Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
als den eines heiteren Festes gehabt. Gefasst nimmt Emilia später zur Kenntnis, »dass alles verloren ist« (V,7). Sicherlich durfte sich der Graf von Emilia geliebt wissen. Er wurde ebenso beherrscht geliebt, wie er beherrscht betrauert wird.
Emilia Galotti ist nicht nur Titel-, sondern auch Hauptperson von Lessings Drama, auch wenn ihr Redeanteil geringer ist als der des Prinzen und der des Kammerherrn Marinelli. Emilia Galotti ist – überspitzt gesagt – in jeder Szene gegenwärtig, auch dann, wenn sie nicht auf der Bühne steht.
Für Conti, den Maler, bildet Emilia das Ideal »der weiblichen Schönheit«; ihm ist die Aussage des Prinzen, dass Emilia »mit zu den vorzüglichsten Schönheiten unserer Stadt« gehört, zu relativ und zu vorsichtig (I,4). Sobald der Prinz allein ist, gibt er die Vorsicht auf und schwärmt ohne Vorbehalt von dem Bild Emilias, das auch als Kopie ein »schönes Werk der Kunst« ist, noch mehr aber von der Person als dem »schönre[n] Meisterstück der Natur« (I,5).
Bei Emilias erstem Auftritt werden dem Zuschauer statt dem Glanz der Schönheit eher die Gefahren bewusst, denen eine so vollkommene Person ausgesetzt ist. Emilia »stürzet in einer ängstlichen Verwirrung« (II,6) in den Saal der Stadtwohnung, ist nicht fähig, einen klaren Satz zu formulieren, und braucht einige Zeit, um die Gedanken zu sammeln und – immer noch ungeordnet – zu erzählen, was ihr geschehen ist. Tatsache ist, dass sie in der Kirche mit Lobpreisungen und Liebesklagen bedrängt wurde, dass sich diesen »Frevel«, wie sie nach einiger Zeit merkte, der Prinz erlaubte und dass dieser Prinz sie nach der Messe in eine Unterredung ziehen wollte. Dies alles hat sie bis zum Äußersten verwirrt. Sie war nicht in der Lage, angemessen zu reagieren: »Meine Sinne hatten mich verlassen« (II,6). Sie ist sich unsicher, ob in ihrem Verhalten schon etwas »Strafbares« lag, ob sie zu einer »Mitschuldigen« wurde, ob »sündigen wollen« auch schon »sündigen« (II,6) ist. Um zu verstehen, was in Emilia vorgeht, muss man sich vergegenwärtigen, dass dieser Überfall am Morgen ihres Hochzeitstages geschieht und dass zur Zeit des Absolutismus Übergriffe der Fürsten auf die Unschuld bürgerlicher Töchter als ein schlimmer Beweis dafür angesehen wurden, dass die Bürger der Willkür der Fürsten ausgeliefert waren. Für das moralische Bürgertum galt es als unverzeihliche Schande, sich auf die Verlockungen eines Prinzen einzulassen.
Emilia Galotti ist grundlegend geprägt von den moralischen Vorstellungen des Bürgertums und von den Lehren ihrer Religion. Sie kennt die Gebote und erwartet ein ewiges Leben nach dem Tod. Sie besucht jeden Morgen die Messe, betet zu den Engeln und sucht »Andacht« (II,6). Sie ist zu Treue, Rechtschaffenheit und vor allem zu Gehorsam erzogen. Sie folgt blind der höchst problematischen Empfehlung ihrer Mutter, weder dem Vater noch dem Bräutigam etwas von dem Vorfall in der Kirche zu sagen, und erklärt: »Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen« (II,7). Sie scheint die vom Vater entworfene Lebenskonzeption, nämlich in »Unschuld und Ruhe« (II,4) auf dem Land zu leben, akzeptiert zu haben, Graf Appiani scheint dazu der rechte und durchaus geliebte Partner zu sein.
Obwohl Claudia, Emilias Mutter, mit der »Stadterziehung« (II,4) eine Erweiterung des Horizonts und eine Verbesserung der Umgangsformen im Blick gehabt haben dürfte, ist Emilia das Leben in der Residenzstadt verdächtig. Im Haus des Kanzlers Grimaldi hat sie die Lebensart der »Lasterhaften« (V,7) kennen gelernt. Angesichts der Gefahr, dort der »Verführung« zu erliegen und die »Unschuld« zu verlieren, entwickelt sie jetzt einen starken »Willen«, mit allen Mitteln – sogar durch Selbsttötung – dieser Gefahr auszuweichen, sich vor einer solchen »Schande« zu bewahren und ihr erstrebtes ewiges Leben nicht aufs Spiel zu setzen (V,7).
Die Gefahr, die ihr droht, hat sie erstmals kennen gelernt, als sie im Haus der Grimaldi vom Prinzen angesprochen wurde. Sie muss gemerkt haben, dass der Prinz »von ihrer Munterkeit und ihrem Witz«, vor allem »von ihrer Schönheit« (II,4) angetan war. Trotzdem ist sie höchst erschrocken, als sie später von ebendiesem Prinzen in der Kirche angesprochen wird.
Sie ist der Situation nicht gewachsen. Sie ist nicht vorbereitet, einem begehrlichen Mann »in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdienet«; erst recht ist sie außer Stande, so dem Prinzen, dem
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