Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
noch dem Bräutigam etwas von der Begegnung mit dem Prinzen zu erzählen. Sie spielt den ganzen Vorfall mit dem Satz »Der Prinz ist galant« (II,6) herunter.
Sicherlich ist Odoardos Zurechtweisung »Claudia! Eitle, törichte Mutter« (II,4) überzogen und impulsiv aus dem Augenblick getan. Claudia ist im Recht, wenn sie auch angesichts der Ermordung Appianis und der Entführung Emilias sagt: »Aber wir sind unschuldig. Unschuldig, in allem unschuldig« (IV,8). Doch darf andererseits festgestellt werden, dass sie mit Sicherheit die Gefahr unterschätzt hat, die in der Stadt und durch einen verliebten tyrannischen Prinzen und seinen Höfling droht.
Sie durchschaut zu spät – aber immerhin als Erste – das »Bubenstück« (III,8), das man ihnen gespielt hat. Sie klagt Marinelli als »Mörder« und »Kuppler« (III,8) an. In dieser Situation zeigt sie sich als »Löwin, der man die Jungen geraubet«, mehr jedoch als »unglückselige Mutter« (III,8), die gegen Macht und Bosheit nicht ankommt.
Graf Appiani wird von Prinz Hettore Gonzaga geschätzt als »ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre« (I,6). Er ist Graf, gehört also dem Hochadel an, stammt aus Piemont, wo er über umfangreiche Güter verfügt, und gehört augenblicklich zum Hof von Guastalla, ohne dass er ein genauer umschriebenes Amt bekleidet. Der Prinz denkt daran, ihn sich »verbinden zu können« (I,6). Doch der Graf hat längst beschlossen, den Hof zu verlassen und in die Heimat zurückzugehen, sobald die Heirat mit Emilia Galotti vollzogen ist. Sosehr der Fürst den Grafen schätzt, so sehr wird er von Marinelli, dem Kammerherrn des Prinzen, gehasst. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Marinelli in dem ranghöheren Grafen mit dem ausgezeichneten Leumund einen Konkurrenten fürchtet, den er gern beseitigt sieht.
In der Familie Galotti ist Graf Appiani sehr willkommen. Claudia, Emilias Mutter, ist überzeugt, dass Emilia und der Graf »für einander geschaffen« sind und dass nur in der Nähe des Hofes »die Liebe [sie] zusammenbringen« (II,4) konnte. Auch Odoardo ist glücklich, »diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen« (II,4). Mehr noch als die Tugendhaftigkeit schätzt er den Entschluss seines künftigen Schwiegersohns, dem Hof- und Stadtleben den Rücken zu kehren und sich mit Emilia aufs Land zurückzuziehen, »wohin Unschuld und Ruhe sie rufen« (II,4). Graf Appiani entspricht ganz den Vorstellungen Odoardos; deshalb ist Odoardo auch überzeugt, dass mit dieser Heirat das Glück seiner Tochter Emilia gesichert sei.
Dass Graf Appiani am Morgen der Hochzeit eher »feierlich« und »ernsthaft« als »heiter« (II,7) ist, muss nicht verwirren. Immerhin gesteht er, »schwanger mit so viel Glückseligkeit für mich« (II,7) zu sein. Was ihm Verdruss bereitet, ist, dass ihm von seinen Freunden nahe gelegt wird, seine bevorstehende Hochzeit dem Fürsten offiziell zu melden. Nicht zu Unrecht sieht er darin das Eingeständnis einer Abhängigkeit, die faktisch nicht gegeben ist und die er als anstößig empfinden würde. Tatsächlich weiß der Prinz längst von der Verbindung, auch wenn sie »sehr geheim gehalten worden« (I,6) ist. Trotzdem wollte er offiziell »noch hören, dass er versprochen ist« (I,6). Aber gerade gegen solche überkommenen Erwartungen wehrt sich der empfindsame Graf. Jedem Herrschaftsanspruch, der vom Fürsten ausgeht und der vom Kammerherrn Marinelli überbracht wird, widersetzt er sich. In der Auseinandersetzung mit Marinelli macht er deutlich, dass er im Gegensatz zu Marinelli dem Prinzen keinen Gehorsam schulde, dass er kein Sklave, vielmehr »Vasall eines größern Herrn« (II,10) sei, gemeint ist wohl der Kaiser. Indem er Marinelli als »Affen« beschimpft, hat er einen Kampf angesagt, in dem er umkommt.
Man muss Claudia glauben, wenn sie sagt, dass nur in Guastalla »der Graf Emilien finden« konnte und dass nur dort »die Liebe zusammenbringen« konnte, »was füreinander geschaffen war« (II,4). Die gegenseitigen Liebesbezeugungen der Brautleute fallen allerdings sehr sparsam aus. Appiani scheint mehr daran gelegen, Odoardos »Sohn zu heißen« (II,7) als Emilia als Braut heimzuführen. Ihm ist wichtig, in Emilia »eine fromme Frau« zu haben; für ihren »Putz« hat er keinen Blick (II,7). Ein besonderes Hochzeitskleid ist ohnehin nicht vorgesehen. Die Hochzeitsfeier, zu der es nicht kommt, hätte eher den Charakter einer ernsthaften Pflichtveranstaltung
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