Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel
Verbrechen des Hofes durchschaut hat und Marinelli als »Mörder« und »Kuppler« anklagt, geht dieser nicht auf die Vorwürfe ein, sondern beanstandet die Form: »Aber mäßigen Sie wenigstens Ihr wildes Geschrei, und bedenken Sie, wo Sie sind« (III,8). Die Form zu wahren – im Sprechen, im Auftreten, in den Manieren – gilt als oberstes Gebot der höfischen Gesellschaft.
Allein der zweite Akt des Trauerspiels spielt »in dem Hause der Galotti«, das Mutter und Tochter für eine Zeit bewohnen, um das Leben in der Residenzstadt kennen zu lernen. Odoardo hat gehörige Vorbehalte gegen diese »Stadterziehung«, die Claudia im Interesse ihrer Tochter für notwendig hielt und die in ihren Augen schon deshalb erfolgreich war, weil »hier nur […] der Graf Emilien finden« konnte (II,4).
Odoardo hat feste Grundsätze. Für Graf Appiani ist er »das Muster aller Tugenden« (II,7). Wie ein altrömischer Pater familias wacht er über die Familie. Er zeigt sich fest davon überzeugt, dass das Leben in der Stadt und erst recht das am Hof voller Gefahren ist. Jeder Schritt, so fürchtet er voller Argwohn, kann da zum »Fehltritt« (II,2) werden. Ein Fehltritt der Tochter würde aber nicht nur deren Ehre, sondern die der ganzen Familie ruinieren. Kostbarster Besitz der Familie, so scheint es, ist die Unberührtheit Emilias bis zur vollzogenen Eheschließung. Das letzte Ziel des Lebens liegt jedoch nicht im Diesseits, sondern in einem nicht näher genannten Jenseits.
Die Lehren der Kirche geben diesem hohen Tugendideal ein festes Fundament. Emilia ist am Morgen ihrer Hochzeit in die Messe gegangen, »Gnade von oben zu erflehen« (II,2); groß ist ihre Furcht zu sündigen; ihr überscharfes Gewissen redet ihr ein, dass »sündigen wollen, auch sündigen« (II,6) sei. Graf Appiani ist Claudia gegenüber sicher, dass er an Emilia »eine fromme Frau« haben werde, »die nicht stolz auf ihre Frömmigkeit ist« (II,7). Stolz jeder Art wäre schon eine Untugend, die sich verbietet. Gefragt sind vor allem Zurückhaltung, Bescheidenheit und Gehorsam. Unbedingt scheint dieser Gehorsam zu sein, wenn Emilia ihre Überlegungen, ob sie ihrem Vater und ihrem Bräutigam von den Nachstellungen durch den Prinzen berichten soll, damit abbricht, dass sie den Anweisungen ihrer Mutter folgt und sagt: »Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen« (II,6). Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt sich, dass dieser blinde Gehorsam verhängnisvoll ist.
Die Lebensvorstellungen der Familie Galotti unterscheiden sich deutlich von denen, die am Hof üblich sind. Es ist nur konsequent, dass Odoardo sich auf sein Landgut zurückgezogen hat und dass er glücklich ist, dass Graf Appiani und Emilia in »Unschuld und Ruhe« (II,4) fern vom Hofleben sich selbst leben wollen. Der Hof ist in seinen Augen ein Ort der Amoralität: In dem Prinzen, der von seinen Empfindungen übermannt wird, sieht er einen »Wollüstling« (II,4). Emilia scheint von den gleichen Vorstellungen geprägt zu sein, wenn sie in der Annäherung des Prinzen einen »Frevel« (II,6) sieht und in ihm selbst das personifizierte »Laster« (II,4).
Umgekehrt erkennt man, welchen Bedrohungen das Haus der Galotti ausgesetzt ist, wenn Angelo, der Kriminelle, im Haus auftaucht und den Weg der Hochzeitskutsche ausspioniert und wenn Marinelli eindringt, um den Bräutigam zu provozieren und später zu erledigen.
Liebe, Ehe und Mätressentum
An dem Liebesverlangen des Prinzen ist nicht zu zweifeln. Als er von Marinelli hört, dass Emilia am Nachmittag heiratet, bricht es aus ihm heraus: »So bin ich verloren! – So will ich nicht leben!« Und er gibt seinem Kammerherrn gegenüber zu: »Nun ja, ich liebe sie; ich bete sie an« (I,6). Er ist von seinen Gefühlen völlig übermannt. Allerdings scheinen diese Empfindungen sehr vom Augenblick bestimmt zu sein, denn es ist erst wenige Wochen her, dass er die Gräfin Orsina »liebte« und bei ihr »so leicht, so fröhlich, so ausgelassen« (I,3) war. Diese Liebe ist verflogen; der Gräfin »Grimasse« und »Medusenaugen« (I,4) sind ihm inzwischen zuwider.
Dass Graf Appiani seine Braut Emilia liebt, muss man glauben, obwohl man keine derartige Äußerung von ihm hört. Er redet Emilia am Hochzeitsmorgen mit »meine Teuerste« an und bestätigt, dass es ihm eine »Ehre« sei, bald »der Ihrige zu sein« (II,7). Emilia sähe ihren Bräutigam gern »heiter« und möchte gern Zeichen einer »freudigern Aufwallung« sehen (II,7). Doch der Graf ist »ernster als
Weitere Kostenlose Bücher