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Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel

Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel

Titel: Emilia Galotti - Textausgabe und Lektüreschlüssel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G.E. Lessing
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vornherein darauf ausgerichtet, »eine bürgerliche Virginia« (s. o. Kap. 5 : 86) auf die Bühne zu bringen; er war überzeugt, »daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, […] für sich schon tragisch genug, und fähig genug sey, die ganze Seele zu erschüttern« 21 . Tatsächlich sind am Ende des Spiels Emilia und ihr Vater die am meisten zu Bedauernden. Ob damit die Geschehnisse als »tragisch« zu bewerten sind, mag diskutiert werden. Einer weiteren Diskussion wäre die Frage wert, in welchem Sinne hier von »Schicksal« gesprochen wird. Schließlich ist zu klären, was Emilia Galotti zu einer bürgerlichen Virginia macht. Ausdrücklich weigert sich Odoardo, das Stück »wie eine schale Tragödie zu beschließen« (V,8), indem er sich selbst das Leben nähme. Er setzt immer noch auf eine ausgleichende Gerechtigkeit »vor dem Richter unser aller« (V,8) – eine Vorstellung, die mit der Konzeption der altgriechischen Tragödie nichts zu tun hat.
Höfische Gesellschaft und bürgerliches Familienleben
    Für vier von fünf Aufzügen bietet der Hof den Schauplatz der Handlung: Der erste Aufzug führt in das »Kabinett des Prinzen«, in einen Raum des Residenzschlosses also, der als Arbeitszimmer des Fürsten dient. Seit der Herausbildung des absoluten Staates bildet das Kabinett den Mittelpunkt des persönlichen Regiments des Fürsten; nur geheime Räte und vertraute Helfer haben Zugang zu ihm. Vom dritten bis zum fünften Akt bildet das »Lustschloss des Prinzen« den Handlungsraum. Hier geht es um Genuss, Freude und Glück, um Wünsche und Begierden, deren Erfüllung den höchstmöglichen Glückszustand in Aussicht stellt.
    Der Prinz ist Alleinherrscher. Er ist nicht in dem Sinn Tyrann, dass er eine brutale Gewaltherrschaft ausübt, wohl aber in jenem, dass er unbeeinflusst von seinen Räten nach reiner Willkür entscheidet, welche Bittschriften positiv und welche negativ beschieden werden, welche Summen aus der Staatskasse dem Maler angewiesen werden und wann ein Todesurteil unterschrieben wird und wann nicht. Dem Staatsinteresse fügt er sich, wenn er eine »Vermählung mit der Prinzessin von Massa« (I,6) eingeht. Ungeachtet dessen lässt er sich von seinen Empfindungen bestimmen, wenn es darum geht, Emilia für sich zu gewinnen.
    Der Fürst schrickt »vor einem kleinen Verbrechen nicht« (IV,1) zurück – vorausgesetzt, es wird nicht öffentlich und schadet weder seinem Ansehen noch seiner Machtstellung. Intrigen und Ränkespiele sind Teil des Herrschaftssystems. Sofern sie Erfolg bringen, sind sie legitimiert. Die Erweiterung der Macht und die Erfüllung aller Wünsche sind die am meisten erstrebten Ziele.
    Für die Räte und Helfer ist existenziell wichtig, sich die Gunst des Herrschers zu erhalten. »Sich bücken, schmeicheln und kriechen« und die Konkurrenten »auszustechen suchen« (II,4) garantiert am Hof viel eher den Aufstieg als sorgfältige, sachkundige, ehrliche Arbeit. Deshalb dürfte Odoardo aus dem Dienst ausgeschieden, Appiani nie zu solchem herangezogen worden sein, Camillo Rota keine Aufmerksamkeit finden und Marinelli die Spitzenposition erreicht haben. Die Vermutung Odoardos, dass der Prinz ihn hasse (II,4), wird richtig sein; die Feindschaft zwischen Marinelli und Graf Appiani ist offenkundig.
    Die sogenannte galante Sprache sucht viele dieser Übel zu verdecken. So ist es galant, aber in höchstem Maße falsch, wenn Marinelli sich Graf Appiani gegenüber als »einen seiner ergebensten Freunde« (II,10) vorstellt. Claudia hat die Tendenz der galanten Sprache durchaus erfasst, wenn sie sagt: »Nichts klingt in dieser Sprache wie Alles: und Alles ist in ihr so viel als Nichts« (II,7). Sie unterschätzt allerdings die Wirkung dieser Sprache, wenn sie sie als unbedeutend einschätzt. Wenn sie ihre Tochter, die völlig verstört von der Unterredung mit dem Prinzen nach Hause kommt, mit dem Satz »Der Prinz ist galant« (II,7) zu beruhigen oder zu beschwichtigen sucht, so verkennt sie die Gefahren dieser Redeweise. Ihr ist nur aufgefallen, dass diese Sprache übertreibt und etwa aus einer »Schmeichelei« eine »Beteurung« macht. Sie verkennt die gegenläufige Tendenz, die ein geplantes Verbrechen als »Unglück« hinstellt und heuchlerisch fragt: »Ah, gnädiges Fräulein! […] – was für ein glückliches Unglück verschafft uns die Ehre –« (III,4). Elegant, aber falsch ist diese Sprache, die Teil der am Hof gebräuchlichen Etikette ist. Als Claudia die

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