Emilia - Herzbeben
war, als versuchte sie sich damit nur selbst zu beruhigen. In ihr breitete sich ein ungutes Gefühl aus. So sehr sie auch versuchte, auch diesen Umzug als eine unvermeidliche Normalität in ihrem Leben zu betrachten und die panische Flucht ihrer Mutter mit ihrer Angststörung zu erklären, so sehr wehrte sich etwas in ihr dagegen. Und das lag nicht nur an dem gespielt fröhlichen Verhalten ihrer Mutter und ihrem falschen Lachen, sondern an dem kurzen, heimlichen Telefongespräch, das sie zuvor geführt hatte und das ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Die Stimme ihres Vaters, die durch das Telefon geschrien hatte, klang immer noch in Mias Kopf wider und erschreckte sie bis ins Mark. Ihr Vater schrie niemals. Er hatte niemals Angst und er war auch nie besorgt. Das war eine Eigenschaft, die sie wirklich an ihm bewunderte und die sie so gern von ihm geerbt hätte. Denn sie schaffte es nicht, sich seine Weisheiten, die ihn zu dem machten, was er war, einzuhämmern, um so zu werden, wie er. Obwohl er sie ihr ständig vorpredigte. Er war einfach unerreichbar perfekt und strotzte nur so vor unerschütterlichem Selbstvertrauen. Sie würde nie so sein, wie ihr Vater. Nichts warf ihn je aus der Bahn. Umso mehr erschreckte sie deshalb immer noch seine panische Stimme. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Dieses Mal nicht.
2
Der typische Autogeruch stieg ihr in die Nase, als sie erwachte. Und das erste, was sie sah, waren Bäume. Große Bäume. Ihre Blätter raschelten in einem sanften Windhauch und die Äste bewegten sich gemächlich im roten Sonnenlicht hin und her. Alles war ruhig und friedlich. Kein Unwetter. Keine Panik. Mia atmete auf und drehte den Kopf zur Seite. Ihre Mutter stand neben dem Wagen und lag jemandem in den Armen. Es war ihr Großvater! Sie waren schon da! Schnell öffnete sie ihren Gurt und stieg aus. Die Luft, die ihr entgegen kam, war angenehm kühl und frisch. Sie roch nach Regen, nach aufgewirbeltem Staub und Moos. Als sie um den Wagen herum ging, kam ihr Großvater ihr schon entgegen und nahm sie ebenfalls in den Arm.
»Schön, dass ihr da seid«, sagte er glücklich und drückte sie fest an sich.
Mia schlang ihre Arme um ihn. Sie mochte ihn. Er war einer von den Menschen, die sich nie um etwas Sorgen machten und alles leicht nahmen. So, wie ihr Vater. Außerdem schien er immer noch nicht zu altern. Auch das hatte er mit ihrem Vater gemeinsam. Sie sahen beide aus, als seien sie bei 30 stehengeblieben. Nur seinen grauen Schläfen sah man an, dass er schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatte. Mit ihrer Mutter hatte er kaum etwas gemeinsam, obwohl sie seine Tochter war. Bis auf die Tatsache, dass sie beide wirklich gut aussahen natürlich. Ihre Schönheit hatte ihre Mutter wohl von ihm geerbt, dachte sich Mia, als Walt die Koffer nahm und sie herein bat. Mia war das erste Mal im Haus ihres Großvaters. In dem Haus, in dem ihre Mutter aufgewachsen war. Es roch nach Kräutern und Blumen und nach Holzpolitur.
»Trautes Heim, Glück allein!«, sagte Walt fröhlich, stellte die Koffer neben der großen Treppe ab und breitete die Arme lächelnd aus. Dabei sah er Anna einen Moment lang bedeutsam an. »Willkommen zu Hause!«
Anna lächelte milde und sah dann Mia an. »Du bekommst mein altes Zimmer. Opa hat es für dich hergerichtet.«
»Tja«, machte Walt und schnalzte mit der Zunge, »so gut es ging. Ich hatte ja nicht viel Zeit.«
Mia hob die Augenbrauen. »Naja, wir sind ja auch ziemlich überstürzt losgebrettert«, sagte sie und sah ihre Mutter dabei an.
Anna schnaubte durch die Nase und rollte kurz mit den Augen. »Es musste sein. Mia soll in der Schule nicht zu viel verpassen. Es ist ja mitten im Schuljahr«, verteidigte sie sich.
»Als würde ich«, murmelte Mia mit gesenktem Kopf. Sie kannte die Bücher meistens schon auswendig, bevor der Stoff überhaupt durchgenommen wurde. Sie nannten es Hochbegabung oder Überintelligenz, aber sie war eigentlich nur eine einsame Streberin, die Bücher liebte. Womit sollte man sich auch sonst die Zeit vertreiben, wenn man keine Freunde hatte? Ihre Intelligenz war nur ein Resultat ihrer Einsamkeit. Sie verpasste nie etwas. Es war also eine lächerliche Ausrede und das wusste ihre Mutter auch selbst. Sie hätten ruhig noch bleiben können.
»Mia, es reicht«, sagte Anna warnend. Der Streit zwischen ihnen, der sich fast über die Hälfte der Fahrt gezogen hatte, war noch nicht ganz verflogen. »Die Schule ist auf Grund des
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