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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Wohnung, parkte den Taurus geschickt am Bordstein und beeilte sich, Arlenes vollgepackte Tasche zu nehmen. Arlene konnte die Treppe nur langsam hinaufsteigen und hangelte sich am Geländer entlang. Obwohl es schon seit Tagen nicht mehr geregnet hatte, trug sie ihre Totes-Gummistiefel. Emily hielt sich hinter ihr und nahm die Tasche in die andere Hand, als könnte sie Arlene notfalls auffangen. Erst als sie auf der Veranda waren und Emily den Schlüssel suchte, fragte Arlene: «Und wie kommst du nach Hause?»
     
    Die Wiederbelebung
     
    Arlene schien wieder fahren zu können, zumindest nicht schlechter als vorher, und doch hatte Emily Bedenken. Arlene war schon seit Jahren zerstreut und schwächlich, so war das nun mal. Sie war schon immer zu dünn, ihre Figur praktisch konkav, ohne richtige Taille. Sie war die schlechte Esserin in der Familie, während Henry stets einen Bärenhunger hatte und sich tatkräftig über den Nachschlag oder die Reste hermachte. Arlenes Hände zitterten, ihre Lippen bebten. Sie hustete immer wieder, so stark, als wäre sie völlig verschleimt. Oft suchte sie nach Worten, verstummte mitten im Satz und verscheuchte dann den unfertigen Gedanken mit einem Handwedeln. Doch ohne ihre Zigaretten war alles noch schlimmer, sie war frustriert über sich und die Welt, als benötigte sie ihre ganze Geduld, um nicht in die Luft zu gehen. Das machte Emily nichts aus. Sie neigte selbst zu Wutanfällen (genau wie Margaret, und Margaret zufolge auch Sarah), und Arlenes Ausgeglichenheit ging ihr eher auf die Nerven. Durch ein bisschen Unbeherrschtheit wirkte Arlene menschlicher und nicht mehr so schulmeisterlich. Doch ihr Problem war, dass sie ständig vor sich sah, wie Arlene über den Niesschutz hinweg unsinniges Zeug von sich gab, und dieser Augenblick wie ein Albtraum immer wieder vor ihrem geistigen Auge ablief.
    Nicht der Sturz war das Schrecklichste, sondern Arlenes auf und zu klappender Mund, ihre Zunge außerstande, die verschlüsselte Botschaft ihres Gehirns zu entziffern. Waab laah wuhh. Die Ärzte hatten die Ursache des Problems nicht entdecken können, warum also sollte es nicht wieder auftreten?
    Emily begriff, dass es bloß ihre eigene Angst war. Arlene nahm ihre Medikamente ein und war ernsthaft bemüht, sich zu ändern - das war in ihrem Alter nicht leicht. Emily zollte ihr Anerkennung, und doch trat ihr jener Moment immer wieder wie ein Vorwarnung vor Augen. Margaret und Kenneth sagten, es sei ganz natürlich, dass sie ein so traumatisches Erlebnis nicht einfach abschütteln könne. Aber Emily wollte nicht hören, dass es normal war. Sie wollte wissen, wie sie sich davon befreien konnte.
    Sie war inzwischen besonders wachsam, wenn sie mit Arlene zusammen war, und beobachtete sie genau, als könnte sie den nächsten derartigen Vorfall vorhersehen und ihn verhindern. Wenn sie ihr konzentriert zuhörte, statt nur zu nicken, war Emily überrascht, wie viel von ihrem Gesprächsstoff direkt aus der Zeitung oder dem Radio stammte. Wie die Lokalmedien war Arlene besonders auf die Steelers fixiert, ein Thema, das Emily eigentlich nicht interessierte, über das sie sich aber anhand der Informationen, die sie beim Frühstück aufgenommen hatte, durchaus unterhalten konnte. Arlene wog jedoch darüber hinaus auch die Stärken und Schwächen der Gegner ab, als hätte sie jeden einzelnen persönlich beobachtet. Genau wie Henry oder Kenneth kannte sie die Namen der Spieler, während Emily einzig Ben Roethlisberger kannte, weil sein Name ständig genannt wurde. Für sie hatten diese Einzelheiten keine Bedeutung - die Steelers gewannen, oder sie verloren -, doch für Arlene umfassten sie ein ganzes Universum, über das sie mit jedem sprach, der ihnen begegnete, und da sie sich in Pittsburgh befanden, führte sie regelmäßig mit Kellnerinnen, Kassiererinnen und x-beliebigen Leuten, die mit ihr anstanden, lange, verwickelte Gespräche, die Emily nicht verstand - ein weiterer Beweis, dass Arlene weder tatterig noch verwirrt war, sondern der Welt offen gegenüberstand und darin vermutlich fester verwurzelt war als sie selbst.
    Doch Arlene sprach immer noch ungebeten über den Niesschutz hinweg mit ihr, und Emily hatte Angst.
    Zugleich war sie insgeheim froh, dass sie Arlene helfen konnte, als würde das beweisen, dass sie von beiden die Stärkere war, und sie schwor sich, das nächste Mal vorbereitet zu sein. Die Tatsache, dass man sich im Notfall auf sie verlassen konnte - und dass sie vielleicht wieder

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