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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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aus. Sie schob das Funkengitter am Kamin auseinander und verteilte die Glut, sparte sich den Baum bis zum Schluss auf, trat einen Schritt zurück und sah im Fenster sein gesprenkeltes Spiegelbild und ihre eigene Silhouette vor der Treppe. Gestern war sie verzweifelt gewesen. Heute empfand sie Liebe. Lag das bloß an Weihnachten? Wenn jetzt die Uhr schlüge, würde dann der erste Geist erscheinen, sie an der Hand fassen und ihr ihr törichtes Leben zeigen? In ihrem Alter war es gefährlich zu glauben, die Vergangenheit sei alles, was sie noch habe, ihr Leben schon festgelegt, obwohl jeder Tag eine neue Chance bot.
    Im Bett fragte sie sich, ob sie daran wirklich glaubte. Am Morgen wollte sie noch mal darüber nachdenken, doch ihre Gedanken waren zu schwerfällig, und sie hatte keine Zeit.
    Um Viertel vor sechs mussten sie aus dem Haus sein. Sie war es gewohnt, früh aufzustehen, aber allein, in ihrem eigenen Tempo. Sie brauste sich rasch ab, damit Margaret nach ihr unter die Dusche konnte. Sie hätte ihnen ein Frühstück zubereitet, doch Margaret sagte, sie würden am Flughafen etwas essen. Sie mussten noch packen.
    Draußen war es noch dunkel. Unter den Straßenlaternen trocknete stellenweise der Asphalt. Zu Emilys Bedauern war die Post-Gazette noch nicht da. Sie gab Rufus etwas zu fressen, brühte eine Kanne Kaffee auf, machte sich einen Muffin und wartete. Sie hatte halb sechs zu Arlene gesagt. Als die Standuhr die halbe Stunde schlug, überlegte sie, Arlene anzurufen, doch noch bevor sie ausgetrunken hatte, klingelte es schon an der Tür.
    Arlene entschuldigte sich für die Verspätung. «Ich bin überrascht, dass ihr noch nicht im Wagen sitzt.»
    «Sie sind immer noch dabei, in die Puschen zu kommen.»
    Sie bekamen nichts von ihnen zu sehen, bis Justin genau um Viertel vor sechs mit seinem Koffer die Treppe herunterpolterte. Ein paar Minuten später kam Sarah mit nassem Haar heruntergestapft, gefolgt von Margaret, die einen schweren Matchbeutel trug und einen vollgestopften Rucksack um die Schulter geschlungen hatte. Sie schnappte sich ihre Jacke und den Schal aus dem Wandschrank. Nein, kein Kaffee, sie mussten los. Emily hielt ihr die Haustür auf und wehrte mit einer Hand Rufus ab.
    «Habt ihr alles?», fragte Arlene, als sie in die Highland Avenue bogen.
    «Wenn nicht», sagte Margaret, «dann ist es jetzt zu spät.»
    In der Innenstadt hatten sie den Tunnel für sich allein. Der Parkway West war leer, am zweiten Weihnachtstag mussten nur ein paar nicht zu beneidende Lastwagenfahrer arbeiten. Im Fond, eingezwängt zwischen Margaret und Justin, döste Sarah mit offenem Mund. Die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen, und Emily blieb auf der rechten Spur, hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung, hatte aber dennoch das Gefühl zu rasen. Sie fand es nicht richtig, dass sie ihnen auch noch helfen musste abzureisen.
    Sie fuhren den Green Tree Hill hinauf, unter der Norfolk and Western-Brücke hindurch und durch Carnegie.
    «Wie liegen wir in der Zeit?», fragte Arlene, als wollte sie mitfliegen.
    «Ich glaube, ganz okay», sagte Emily, obwohl es knapp werden würde. Um das Gepäck aufzugeben, mussten sie fünfundvierzig Minuten vor Abflug da sein.
    Sie hatten keine Zeit, den Wagen zu parken. Emily hielt am Check-in vor der Abflughalle, und sie drängten alle hinaus in die Kälte. Ein Gepäckträger half Justin, den Kofferraum zu entladen, und das Warnblinklicht blitzte über ihre Gesichter, während sich Margaret mit dem Schalterbeamten auseinandersetzte. Hinter ihnen stand ein Staatspolizist, darum konnte Emily nur kurz aus dem Wagen steigen, um sich zu verabschieden - beiläufig und unvorbereitet, ganz und gar nicht, wie sie es sich vorgestellt hatte -, bevor die drei durch die Eingangstür verschwanden.
    Als Emily wieder im Wagen saß, stellte sie zu ihrer Bestürzung fest, dass wieder mal nur sie und Arlene zurückblieben.
    «Hoffentlich geht’s Sarah bald besser», sagte sie.
    «Sie hat sich ziemlich elend gefühlt.»
    «Ihr Haar hat mir gefallen.»
    «Ich hab mich inzwischen dran gewöhnt.»
    Sie wollte nicht allein sein, und da sie ohnehin in Edgewood abfahren mussten, schlug sie vor, im Eat ‘n Park zu frühstücken, Gutscheine hin oder her.
    «Ich hab einen dabei», sagte Arlene und klopfte auf ihre Handtasche.
    «Na», sagte Emily, «das ist ja wirklich ein frohes Weihnachtsfest.»
     
    Hausarbeit
     
    Obwohl der Besuch kurz und ziemlich ruhig gewesen war, spürte Emily sofort die

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