Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
Vom Netzwerk:
gekostet?»- als würde das die darin enthaltene Lehre irgendwie entwerten. Sie begriffen nicht. Es ging nicht um den Preis.
    Weil sie nicht gut mit Geld umgehen konnten, sprachen sie nur ungern darüber, als würden sie für etwas gerügt, woran sie nicht schuld waren. Es musste ihnen ungerecht vorkommen. Sie hatten gearbeitet, sie hatten alles versucht, und dennoch waren die Zahlen unerbittlich. Keine ihrer Antworten würde den Kontostand ändern, und deshalb ließen sie erst Henrys und dann Emilys Vorhaltungen als Gegenleistung für den Scheck, der vorübergehend ihre Konten wieder auffüllte, schweigend über sich ergehen.
    Diesen aussichtslosen Widerstand musste Emily an Heiligabend überwinden, als sie Margaret in Henrys Arbeitszimmer führte und die Tür schloss. Der Baum war geschmückt, die Kinder versorgt, das Mittagsgeschirr abgespült. Auf Henrys Schreibtisch lag ein dicker brauner Umschlag, einer von dreien, die Gordon Byrne für sie vorbereitet hatte. Der zweite war für Kenneth. Sie würde ihn fairerweise später in dieser Woche abschicken, sobald der Weihnachtsrummel vorbei und die Wahrscheinlichkeit geringer war, dass der Brief bei der Post verlorenging. Den dritten behielt sie für ihre Unterlagen, damit sie ihn, falls nötig, griffbereit hatte.

In dem Umschlag befand sich, zusammen mit einer Kopie ihres Testaments und ihrer letzten Steuererklärungen, eine Liste ihrer Vermögenswerte - aufgeschlüsselte Bank- und Courtagekonten, die Verträge und der derzeitige Stand ihrer Rentenpapiere, der Inhalt ihres Bankschließfachs, die jüngste Schätzung des Hauses, der Fahrzeugbrief ihres neuen Wagens und, in ihrer eigenen zittrigen Handschrift, ein Dutzend Seiten, auf denen ihr Schmuck, ihr Silber und ihr Hochzeitsporzellan und -kristall, die besseren Möbel, Perserteppiche und Kunstwerke und sogar Henrys alte Holzbearbeitungsmaschinen, alle inzwischen wertvolle Antiquitäten, aufgeführt waren. Beim Verfassen dieser entmutigenden Bestandsliste hatte sie sich Matthäus’ Warnung ins Gedächtnis gerufen, Schätze nicht auf Erden, sondern im Himmel zu sammeln. Ihr war nicht entgangen, dass die Besitztümer, die ihr am meisten bedeuteten - ihre Bücher und ihre Musik - als ziemlich wertlos betrachtet wurden. Wie um dieses Missverständnis zu korrigieren, kehrte sie zum Anfang zurück und fügte ganz oben Henrys Bibel hinzu, ein echtes Erbstück.
    Margaret stellte den Stuhl neben den Schreibtisch, ihren Rücken an die Wand gelehnt, die Hände im Schoß gefaltet wie ein Häftling, der seinem Verhör ins Auge sieht. Emily setzte sich auf Henrys Platz. Das Arbeitszimmer, das ursprünglich als Speisekammer gedient hatte, war eine fensterlose Zelle mit einer selbst installierten Hängedecke, in deren Mitte hinter Milchglas zwei Neonröhren befestigt waren, die den Raum nicht richtig erleuchteten. Emily schaltete die Bogenieuchte am Schreibtisch ein und richtete sie wie einen Scheinwerfer auf die Schreibunterlage, drehte den Umschlag um und ließ den Inhalt herausgleiten.
    Das letzte Mal, als sie ihre Papiere durchgegangen waren, hatten sie sich gestritten, doch damals hatte Margaret noch getrunken. Wie bei jeder Entscheidung, bei der es um große Geldsummen ging, war für die letzten Anweisungen eine unangenehme Ehrlichkeit erforderlich. Zum Schutz der Kinder hatte Emily ihre Vorbehalte gegenüber Margaret formell und verbindlich festgelegt und Kenneth, der jünger war, zum Testamentsvollstrecker ernannt, und sie hoffte, dass Margaret in ihrem neuen Leben für diese Entscheidung, die sie bis zum heutigen Tag verteidigen würde, Verständnis hatte.
    Ihr Gefühl riet ihr, das Thema direkt anzusprechen. Diese Unterredung war zwar unangenehm, aber erforderlich, besonders wegen der ganzen Änderungen bei der Erbschaftssteuer. Sie wollte nicht, dass Margaret sich aufregte, und hatte es längst aufgegeben, sie freundlich zu stimmen.
    «Hier ist alles, was ihr nach meinem Tod braucht», sagte sie ohne Vorrede und klopfte auf das oberste Blatt. «Die größte Veränderung besteht darin, dass ich euch beide zu gemeinschaftlichen Testamentsvollstreckern ernannt habe, falls das in Ordnung ist.»
    Sie dachte, Margaret würde sich darüber freuen, doch es war möglich, dass sie die alte Kränkung noch nicht überwunden hatte, denn sie zeigte weder Erleichterung noch Dankbarkeit, sondern sah sie weiterhin grimmig an. Glaubte Emily tatsächlich, sie könnte so leicht von ihrer Schuld freigesprochen werden?
    «Wenn ihr alles

Weitere Kostenlose Bücher