Emily, allein
Verwunderung, ohne etwas, das sie daran erinnerte, mit der Zeit vergessen würde.
Im Vorbeifahren
In der folgenden Woche schlug das Wetter endlich um und erlöste Emily. Der Schnee taute, und der Garten, gesprenkelt mit Rufus’ Hinterlassenschaften, einige davon noch aus dem November, wurde patschnass. Sie schaufelte ein zerbröckelndes Häufchen nach dem anderen auf, nicht bloß über die Menge, sondern auch über die Verschiedenartigkeit erstaunt - kreideweiß, ziegelrot, dunkeloliv. Er fraß doch tagtäglich dasselbe Futter. Die unterschiedlichen Farben, dachte sie, mussten auf die Hundekuchen zurückzuführen sein.
Vor dem Haus war es nicht annähernd so schlimm, doch sie musste auch dort alles aufschaufeln. Als die von den Schneepflügen hinterlassenen schmutzigen Haufen schmolzen, gaben sie ihre Schätze frei. Eine Plastiktüte vom Giant Eagle in der Hand, stand Emily gerade in ihrer Arbeitskleidung gebückt am Bordstein und sammelte die eingerissenen Kaffeebecherdeckel, die plattgefahrenen Strohhalme und die durchnässten Zigarettenstummel ein, als plötzlich jemand den Hügel hinabbrauste und ihr zuhupte.
In einer einzigen Bewegung, eher aus Reflex als aus gutnachbarlichem Verhalten, blickte sie von ihrer Arbeit auf und hob die Hand, während das Auto, ein großer weißer Geländewagen, den sie nicht kannte, an ihr vorbeischoss. Er hatte dunkel getönte Scheiben, was Emily mit Drogenhändlern und East Liberty in Verbindung brachte, mit großspurigen Jugendlichen, die ihre Stereoanlagen so laut aufdrehten, dass die Luft vibrierte. Sie war sich sicher, dass sie niemanden mit so einem Wagen kannte. Der Fahrer hielt am Stoppschild, bog links in die Highland Avenue ab und ließ beim Beschleunigen den Motor aufheulen.
War es ein Scherz gewesen? Machten sie sich über die alte Frau lustig und wollten ihr Angst einjagen? Sie war davon überzeugt, dass sie mit ihrem Kopftuch, Henrys schäbigem altem Pepitahemd und ihren schmutzigen Wildlederhandschuhen einen ungewöhnlichen Anblick bot, wie eine greisenhafte Parodie auf Millets Ährenleserinnen. Sie blickte in beiden Richtungen die Grafton Street entlang, um zu sehen, ob noch jemand zuschaute. Als ein VW-Käfer aus der Sheridan Avenue bog, senkte Emily den Kopf, als sei sie in ihre Arbeit vertieft, behielt den Wagen aber im Auge, während er friedlich vorbeifuhr, und kam sich plötzlich dumm und auf den Arm genommen vor, obwohl sie nicht genau sagen konnte, warum.
Wohlwissend, dass sie dünnhäutig war, tat sie das Ganze mit einem Kopfschütteln ab und wandte sich ihrer nächsten Aufgabe zu, dem Ausräumen des Kühlschranks, um für die Lebensmittel Platz zu schaffen, die sie am Nachmittag kaufen wollte. Mit dem Rest scharfen Cheddar machte sie sich zum Mittagessen einen Käsetoast und verputzte ein schon abgelaufenes Glas Mixed Pickles, doch während sie kauend da saß und daran dachte, dass sie die Vogelhäuschen auffüllen musste, sah sie sich immer wieder gebückt und wehrlos dastehen, während der Geländewagen vorbeischoss und ihre Hand allzu bereitwillig in die Luft schnellte.
«Ich weiß, es ist schwer einzusehen», hatte ihre Mutter einmal anlässlich einer Meinungsverschiedenheit auf dem Schulspielplatz zu Emily gesagt, «aber nicht jeder auf der Welt ist dein Freund.» Emily glaubte, dass sie ihre Lektion gelernt hatte. Hatte sie ihren Kindern nicht beizubringen versucht, vorsichtiger zu sein, oder hatte das Vertrauen des Menschen tiefere Wurzeln? In ihrem Leben war sie zumeist davon ausgegangen, dass nichts schiefgehen würde, dass die Menschen freundlich waren. Doch jetzt erkannte sie, dass sie bloß Glück gehabt hatte. Das war fast immer so gewesen, deshalb war sie aufs Alter erschreckend unvorbereitet.
Diesem Gedanken hing sie gerade nach, als sich hinter ihr, vor dem Haus, der Briefkastendeckel quietschend öffnete und dann scheppernd zuklappte, eine stets vielversprechende Kombination von Tönen. Sie zögerte, ließ kurz Wasser über das Geschirr laufen, räumte es in die Spülmaschine und ging ins Wohnzimmer, wo sie ans Erkerfenster trat, sich über die Heizung beugte und mit angehaltenem Atem durch die Vorhänge spähte. Der Briefträger war schon am Haus der Coles vorbei und ging weiter die Straße entlang. Sie sah nach, ob sich Autos auf der Straße befanden, öffnete dann die Tür, holte die Post aus dem Briefkasten, schloss behutsam den Deckel und schlüpfte wieder ins Haus, bevor irgendjemand sie sehen konnte.
Virtueller
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