Emily, allein
Gegend sein, kommt bitte vorbei. In nächster Zeit habe ich nicht vor, irgendwohin zu fahren.»
Draußen hatte Emily das Gefühl, als würden sie flüchten. Im Wagen war es feucht, und Arlene schaltete ihre Sitzheizung ein. Der Stoßverkehr hatte begonnen, und die Autos auf der Freeport Road schlichen an den schmuddeligen Einkaufsmeilen vorbei. Irgendwo in dem riesigen Stadtgebiet hinter ihnen lag das Pflegeheim, dem Emily nie einen Besuch abgestattet hatte, die mit Teppichboden ausgelegten Flure und die piependen Maschinen. Die Abenddämmerung brach herein, der Himmel im Westen jenseits der Innenstadt rot verschmiert, blinkende Warnlichter an den Schleusen, als sie die Highland Park Bridge überquerten. Direkt hinter dem dunklen Hang, der sich vor ihnen erhob, fütterten die Zooarbeiter gerade die Tiere und spritzten die Käfige aus.
«Danke», sagte Emily. «Ich bin froh, dass wir auf dem Empfang waren.»
«Zuerst wolltest du aber nicht.»
«Ich glaube, ich habe zu viele davon erlebt.»
«Stimmt», sagte Arlene. «Nach einer Weile verschmelzen sie miteinander.»
«Eccles habe ich noch nie besonders toll gefunden.»
«Ach, ich weiß. Es ist deprimierend.»
«Ich verstehe nicht, warum der Sarg dastehen musste. Sollte das als Beweis dienen? Ich brauche keine Beweise.»
«Sie haben sich gefreut, dich zu sehen.»
«Ich mich auch. Es ist lange her.»
Diese Wehmut war unaufrichtig. Wie seit dem Moment, als Emily von Kays Tod erfahren hatte, hätte sie am liebsten gestanden, dass sie eine schlechte Freundin und feige gewesen war, Kay wegen der Erinnerungen an Louise nicht besucht hatte, als sie in dem Heim ganz allein war, und dass sie sich das nie verzeihen würde. Sie musste an das Schuldbekenntnis denken, an seine Grenzenlosigkeit: dass ich Böses getan und Gutes unterlassen habe. Ja, genau. Sie war sich nicht sicher, ob sie bis Sonntag warten konnte. Vielleicht konnte sie heute Abend, wenn sie im Bett lag, diesen jüngsten Fehler - bestimmt nicht ihr letzter - gegenüber Gott bekennen, denn wer sonst sollte sie davon lossprechen?
Am Ende der Brücke musste sie sich entscheiden, in welche Richtung sie fuhr - geradeaus, nach Regent Square und zu Arlenes Wohnung, oder rechts, nach Hause. Es war ein langer Tag gewesen, und sie war erleichtert, als Arlene sie nicht fragte, ob sie zusammen essen wollten.
Sie bogen auf den Washington Boulevard und kamen an dem alten Verkehrsübungsplatz mit der Kaserne der Staatspolizei vorbei, wo Henry die Kinder hatte den Führerschein machen lassen. Die künstlichen Straßen waren in eine schicke Fahrradpiste umgewandelt worden, mit farbigen Fahrspuren und erhöhten Kurven wie bei einer Rennstrecke.
«Daran gewöhne ich mich nie», sagte Emily.
«Man fragt sich, wessen Idee das war.»
«Meine jedenfalls nicht.»
Als sie Arlene absetzte, schlug Emily vor, wenn sich das Wetter nicht bessere, könnten sie sich die Van-Gogh-Ausstellung in der Scaife Hall ansehen. Nicht am Wochenende - sie wollten sich ja nicht mit den Menschenmassen herumschlagen -, aber vielleicht am Montag? Bloß um mal aus dem Haus zu kommen. «Die will ich unbedingt sehen.»
«Wir könnten dort zu Mittag essen und uns einen schönen Tag machen.»
«Das klingt wunderbar», sagte Arlene, und damit war die Sache geregelt.
Auf der Heimfahrt durch die nassen Straßen von East Liberty dachte Emily voraus. Am Sonntag hatten sie Kirche, Montag die Scaife Hall, Dienstag das Frühstück im Eat ‘n Park, und am Mittwoch kam Betty. Dann musste sie immer noch den nächsten Tag und den Samstag allein herumbringen.
Sie hätte Arlene zum Abendessen einladen sollen. Sie wusste nicht genau, warum sie es nicht getan hatte. Bloß aus Müdigkeit. Sie ertappte sich dabei, wie sie auf der Innenseite ihrer Wange kaute - eine Angewohnheit, die ihre Mutter nicht ausstehen konnte -, und zwang sich, damit aufzuhören.
An der Grafton Street gingen flackernd die mattsilbernen Straßenlaternen an. Als sie vor ihrer Einfahrt das Tempo drosselte, tauchte dunkel hinter den Hecken und unentrinnbar das Haus der Millers auf, dessen Giebel sich scharf vor dem Himmel abzeichneten. Die Vorstellung, dass es dort jetzt spukte, war albern. Sie runzelte die Stirn über sich, verscheuchte den Gedanken, bog ab und konzentrierte sich darauf, den Wagen in der Mitte zu halten, damit sie nicht am Zaun entlangschrammte.
Sie hatte für Rufus ein Licht angelassen, aber dennoch war er ganz aufgeregt und schnaufte hinter ihr, während sie ihm das Futter
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