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Emily, allein

Emily, allein

Titel: Emily, allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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Stillleben, die Licht absorbierten, statt es freizusetzen. Emily, deren ehrgeizigster Malversuch das Streichen der Küche gewesen war, wusste, dass sie zu hart mit ihr ins Gericht ging, und beobachtete, milder gestimmt, wie Arlene sich vorbeugte und den in der Strömung gefangenen Stechkahn mit zusammengekniffenen Augen betrachtete. Falls kein Wunder geschah, sahen sie diese großen Van-Goghs heute zum letzten Mal. Emily wollte die Bilder genießen, sie in sich aufsaugen, doch so sehr sie Arlenes Begeisterung auch bewunderte, hielt sie, abgelenkt von den Kindern und den tristen Straßen draußen, etwas davon ab, diesen Gefühlsüberschwang zu teilen. Das hier war kein vollendetes Kunsterlebnis, und für einen kurzen, egoistischen Augenblick verstand sie, warum der Schwarzmarkt florierte. Mit einem Meisterwerk allein zu sein, hieß, es ganz zu besitzen. Dann kam einem kein Kommentar eines Führers oder Besuchers dazwischen, keine in riesigen Buchstaben gedruckten Anmerkungen eines Kurators, es gab nur einen selbst und das Gemälde, und in dieser Stille Annäherung, Vertrautheit und vielleicht Verbundenheit. Sie wünschte sich, ergriffen und hingerissen zu sein, aber wie war das in einem Raum voller Drittklässler möglich?
    Kurz nachdem Emily die Hoffnung aufgegeben hatte und sie an der Wand mit den japanischen Bildern vorbeischlenderten, blieben sie vor einem schlichten Gemälde stehen, dem Zweig eines blühenden Mandelbaums. Es war keins der bedeutenden Werke, Emily kannte es nicht. Die Blüten selbst lösten nichts in ihr aus, doch das Blau, das van Gogh für den Hintergrund gewählt hatte, faszinierte sie - satt und leuchtend, fast Aquamarin mit einem milchigen Weiß darin, so aufdringlich, dass es an der Verkleidung eines Hauses lächerlich ausgesehen hätte und hier fast ein Affront war, doch nach dem ersten Blick konnte sich Emily nicht mehr davon losreißen. Monatelang hatte sie vom Frühling geträumt. Hier war er in seiner ganzen knalligen Frische, vergegenwärtigt durch ein ganz schlichtes Symbol - eine Blüte, einen Zweig, die sonnenerwärmte Luft. Während Arlene weiterging, verweilte Emily konzentriert, als könnte sie sich diesen Anblick ins Gedächtnis prägen, wenn sie das Bild nur genau genug betrachtete.
    Zum Teil hatte es an der Überraschung, dem Schock über das unbändige Blau gelegen, dachte sie später, als sie fast alles gesehen hatten. Die Sonnenblumen und die Krähen über dem Weizenfeld ließen sie völlig gleichgültig, doch jener erste kurze Blick behielt den Wert einer Entdeckung, noch dazu einer unvergesslichen. Nicht bloß das Unerwartete hatte sie ergriffen. Die Trostlosigkeit der letzten paar Wochen hatte sie dafür empfänglich gemacht. Wie seltsam, dass seine Farbwahl, vor so langer Zeit getroffen, genau in jenem Augenblick darauf gewartet hatte, ihren Trübsinn zu vertreiben. Und wenn man bedachte, dass sie all das trotz des ringsum herrschenden Chaos empfunden hatte. Sie konnte sich keinen größeren Beweis für die Kraft der Kunst vorstellen, und waren sie nicht deshalb hier, um ihren Glauben daran zu erneuern?
    Auf dem Weg zu den Aufzügen blieb sie extra noch einmal stehen, um einen letzten Blick auf das Gemälde zu werfen, und stellte zu ihrer Freude fest, dass sie jetzt auch von den Blüten fasziniert war, als hätte sie die zuvor übersehen.
    «Ich glaube, das ist mein Lieblingsbild.»
    «Für eine Studie ist es schön», sagte Arlene. «Ich hab eher eine Schwäche für La Berceuse.»
    « Das ist doch vollkommen anders.»
    «Stimmt. Hier hängen so viele wunderbare Werke, dass es überwältigend ist. Ich bin froh, dass du vorgeschlagen hast herzufahren.»
    «Ich auch», sagte Emily.
    Das Cafe war gedrängt voll und teuer, doch die Zwiebelsuppe wärmte sie. Sie fragte Arlene, ob es ihr etwas ausmache, einen kurzen Blick in den Souvenirladen zu werfen. Sie wollte einen Druck des Gemäldes mitnehmen, doch als sie an ihre Wände zu Hause dachte, hatte sie das Gefühl, dass dort für etwas Neues kein Platz mehr war. Vielleicht oben im Flur oder in Kenneths Zimmer, aus dem man nach hinten auf den Garten blickte. Es gab davon ohnehin keine Drucke, nur von Sternennacht und ein paar anderen Ikonen. Sie drehte den Postkartenständer, bis sie das Bild gefunden hatte, doch das Blau war nicht richtig wiedergegeben. Es sah stumpf und leblos aus, dem Original überhaupt nicht angemessen, und sie verließ den Laden mit leeren Händen, wohlwissend, dass sie das Gefühl staunender

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