Emily, allein
noch schlimmer, aber wenn sie nach einem einsamen Abendessen und einem Glas Wein manchmal Selbstmitleid überkam, war sie sich darüber unschlüssig. Das hier war ihre Welt. Wie ihre Mutter immer geraten hatte, musste sie bloß das Beste daraus machen.
Als Jim Cole am Samstag herüberkam, um die Sturmfenster abzuhängen und die Fliegengitter einzusetzen, bat sie ihn um seine Meinung. Er hatte sich im Winter um das Haus gekümmert und bestätigte, dass der Heizkessel schon älter war - aber es sei ein Lennox, eine vertrauenswürdige Marke, und er heize das Haus ganz gut, sogar als es im Januar so bitterkalt gewesen sei, doch zugegeben, da das Haus zu diesem Zeitpunkt leer stand, war der Thermostat nur auf fünfzehn Grad eingestellt. An den Warmwasserbereiter hatte er keine spezielle Erinnerung und glaubte, dass damit alles in Ordnung sei. Beim Stromanschluss vertraute er auf ihr Wort, und über die elektrischen Leitungen wollte er keine Vermutungen anstellen. Jeder ernsthafte Interessent würde alles von einem Techniker kontrollieren lassen, aber ihm sei nichts Beunruhigendes aufgefallen, bloß die üblichen Verschleißerscheinungen in einem so alten Haus. Der Professor in ihm neigte dazu, seine Antworten zu relativieren und sich nicht festzulegen, bis zu dem Punkt, dass er gar keine eigene Meinung zu haben schien. Als sie ihn beharrlich nach dem Zustand des Fundaments fragte, schlug er ihr vor, am nächsten Tag selbst hinüberzugehen und sich alles anzusehen.
«Ach, das geht doch nicht.»
«Warum?»
«Ich würde das nicht richtig finden. Ich weiß, das ist albern, aber…»
Er widersprach ihr nicht. Sie war sicher, dass er glaubte, sie sei auf seine Erlaubnis aus und könne trotz aller Beteuerungen der Versuchung nicht widerstehen. Obwohl Jim Cole schon über zehn Jahre ihr Nachbar und immer nett war, kannte er sie nicht besonders gut. Wenn das Haus der Coles zum Verkauf stünde, hätte sie keine Skrupel, in ihren Zimmern herumzuschnüffeln. Zugleich konnte sie ihm nicht erklären, dass ihre Neugier streng finanzieller Natur war, denn er würde ihr nicht glauben, und deshalb reichte sie ihm das nächste saubere Fliegengitter und ließ das Thema fallen.
Diese Kränkung und ihr eigener Entschluss hielten sie am nächsten Tag davon ab, die Grafton Street zu überqueren und sich der langen Reihe von Paaren anzuschließen, deren Autos auf beiden Seiten die Straße säumten. Sie betrachtete es als gutes Zeichen, dass mehrere von ihnen nach draußen kamen, ums Haus gingen und Fotos machten. Auf dem Rückweg zum Wagen unterhielten sie sich angeregt, und Emily wünschte, sie hätte eine Kopie des Prospekts, den alle erhielten. Sie musterte ihre potenziellen Nachbarn genau, achtete besonders auf ihre Kleidung und ihr Auftreten, als würde sie sie nach ihrem äußeren Anschein beurteilen. Als Patientin von Dr. Sayid war sie nicht überrascht, dass einige der Familien indischer Herkunft waren. Ihr fiel auf, dass keiner der Leute schwarz war. Am besten gefiel ihr ein Paar, das direkt aus der Kirche gekommen zu sein schien, mit zwei blonden Kleinkindern, die durch den Garten flitzten, als seien sie dort zu Hause.
Die Hausbesichtigung endete um vier Uhr, doch der Makler blieb noch bis kurz vor fünf. Inzwischen hatte Emily ihren Stuhl umgedreht, sodass er wieder dem Wohnzimmer zugekehrt war. Ihr Wunsch, sich ein letztes Mal in Dicks und Kays Haus aufzuhalten, hatte nicht nachgelassen - eigentlich war er bloß noch stärker geworden. Den ganzen Tag über war sie versucht gewesen, hinüberzugehen und sich als Nachbarin und alte Freundin der Millers vorzustellen, und obwohl das für alle anderen keine Bedeutung hatte, war sie stolz, durchgehalten zu haben, und beglückwünschte sich jetzt, wo die Gelegenheit verstrichen war, dass sie die Privatsphäre der Millers respektiert hatte.
Das kleinere Übel
Normalerweise hatte die Präsidentschaftsvorwahl in ihrem Bundesstaat keine große Bedeutung, da sie erst so spät stattfand. Doch weil Hillary Clinton nicht aufgeben wollte, stand Pennsylvania plötzlich im Zentrum des Wahlkampfs, und die Pausen in den Abendnachrichten waren die reinste Werbeschlacht. Am Freitag sprach Barack Obama, den Emily für einen Opportunisten und ein außenpolitisches Leichtgewicht hielt, auf einer Kundgebung in der Innenstadt, die für ein stundenlanges Verkehrschaos sorgte. Am Montag kam Hillary in letzter Minute auf Stippvisite.
Als treue Republikanerin fühlte sich Emily ausgeschlossen und
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