Emma und der Rebell
und er entschuldigte
sich für Joellens Verhalten und meinte, er hätte den Brief schon viel eher
geschickt, wenn Manuela ihn nicht erst vor wenigen Tagen gefunden hätte. Es
folgten herzliche Grüße, auch von Chloe, und Big John verabschiedete sich mit
den besten Wünschen für die ganze Familie.
Mit wild
klopfendem Herzen und bebenden Händen riß Emma den blauen Umschlag auf. Sie saß
in der großen Suite, die einst Lucy und Macon bewohnt hatten und die jetzt ihr
und Steven gehörte.
Ihre
Tochter schlief friedlich in einer Wiege neben dem breiten Bett.
Sie zog das
einzelne Blatt heraus und faltete es auseinander. »Lieber Marshal«, begann
der Brief, der in einer Handschrift verfaßt war, die Emma schon als Lilys
erkannte, bevor sie noch die Unterschrift gesehen hatte. Der Brief handelte von
Lilys verzweifelter Suche nach ihren verlorenen Schwestern, Miss Emma und Miss
Caroline Chalmers.
Tränen
tropften von Emmas Wangen auf das Papier, als sie es zärtlich küßte und dann
auf ihren Schoß sinken ließ. Lily. Sie hatte in Spokane gelebt, als sie den
Brief schrieb – in Spokane! Auch Emma war dort gewesen, in derselben Stadt, und
nicht einen Augenblick auf den Gedanken gekommen, ihre Schwester könnte sich in
ihrer Nähe aufhalten.
Eine Stunde
später, als Steven zurückkam, stillte Emma ihr Kind und las den Brief zum
mindestens zwanzigsten Mal.
»Lily«,
sagte sie und hielt das Blatt in die Höhe, damit Steven wußte, daß sie von
ihrer Schwester und nicht von ihrer kleinen Tochter sprach.
»Ich habe
sie gefunden, Steve. Sie lebt – oder lebte – in Spokane. In ihrem Brief
erwähnte sie einen Mann namens Rupert Sommers.«
Mit einem
zärtlichen Lächeln küßte Steven Emmas Mund, die weiche Wölbung ihrer vollen
Brust und das seidenweiche Haar auf dem Köpfchen seiner Tochter. »Ich gebe
sofort ein Telegramm auf«, sagte er und ging wieder hinaus. Als das Baby
gestillt war und zufrieden schlief, begann Emma eine ziellose Wanderung durch
den Raum, bis sie durch die Fenster ihren Mann zurückkommen sah. Aber an seiner
Schulterhaltung war zu erkennen, daß er keine Neuigkeiten hatte.
»Wir müssen
abwarten, bis eine Antwort kommt, Emma«, sagte er und zog sie tröstend in die Arme.
»Ich kann
das Warten nicht mehr ertragen«, flüsterte sie, aber Steven setzte sich in den
Sessel, in dem sie die kleine Lily gestillt hatte, und zog Emma auf seinen
Schoß.
»Ich auch
nicht«, antwortete er, während er behutsam das Mieder öffnete, das sie gerade
erst zugeknöpft hatte. »Meinst du, es wäre schon möglich?«
Emma
lachte, denn selbst in ihrem qualvollsten Momenten fand sie Trost in Stevens
leidenschaftlichen Umarmungen. »Ja, es ist möglich«, erwiderte sie und schloß
aufstöhnend die Augen, als er ihre Brustspitze in den Mund nahm und genauso
hungrig daran saugte wie eben noch seine kleine Tochter.
Die
ersten Tage in Chicago waren für
Emma sowohl erschöpfend wie auch enttäuschend. Die Gegend, in der sie mit Kathleen
und ihren Schwestern gelebt hatte, war nicht wiederzuerkennen, die alten
Häuser waren durch neue ersetzt worden, und alle Versuche, den Anwalt ihrer
Mutter ausfindig zu machen, schlugen fehl.
Emma
gewöhnte sich an, zu Kathleens prächtigem Haus zu gehen, das jetzt verschlossen
war, und an der Tür zu klingeln. Obwohl nie jemand aufmachte, blieb Emma
beharrlich. Gemeinsam mit Steven befragte sie auch die Nachbarn, aber entweder
antworteten sie überhaupt nicht auf ihr Klingeln, oder sie behaupteten,
Kathleen nie gekannt zu haben.
Eines
Tages, als Steven zu einer Besprechung mit einigen Geschäftsfreunden gegangen
war, ließ Emma Lily bei ihrem schottischen Kindermädchen zurück und nahm eine
Kutsche zu Kathleens Haus. Sie hätte weder erklären können, warum sie dieses dringende
Bedürfnis hatte, dort hinzufahren, noch wäre sie imstande gewesen, diesem
Bedürfnis zu widerstehen.
Als sie das
Haus erreichte, klingelte sie, und diesmal öffnete eine Putzfrau in einem
schäbigen Kattunkleid. »Ja?«
»Mein Name
ist Emma Fairfax«, sagte Emma rasch, überwältigt von der Tatsache, endlich
jemand angetroffen zu haben. »Kathleen Harrington war meine Mutter.«
Die kleine
Frau mit dem strengen Knoten nickte, musterte prüfend Emmas Gesicht und ihre
jetzt wieder schlanke Gestalt. »Die Rothaarige«, sagte sie. »Na ja, kommen Sie
ruhig herein«, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu. »Viel gibt es nicht zu
sehen. Mr. Harringtons Verwandten kamen und haben fast alles abgeholt. Aber
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