Emmas Story
verstehen, wieso du das sagst«, beginne ich etwas ratlos. Es ist spät. Lus Anblick verwirrt mich zusehends. Ich habe keine Ahnung, wie ich hier wieder rauskomme.
»Wieso willst du eigentlich immer, dass alle dich lieben?«, faucht sie mich da plötzlich an.
»Was? Also, Lu, ich finde jetzt gehst du aber …«
»Ist doch wahr! Du kannst gar nicht schnell genug sein bei der Erfüllung sämtlicher Erwartungen, die wer-auch-immer an dich stellt. Egal ob deine Eltern, deine Freunde, irgendeine Frau, die eine Wohnung vermieten will, jeder Popanz kann von dir etwas erwarten, und du rackerst dich ab, um dem auch bloß zu entsprechen. Sogar jetzt, hier, in deiner eigenen Wohnung. Ich pupse dich an, und du senkst einfach nur die Augenlider und sagst, dass du mich verstehen kannst. Lässt dir das einfach gefallen. Und dabei bin ich nicht mal irgendjemand Wichtiges. Ich bin doch nur ich, die nervige, seltsame, alte Klamotten sammelnde Lu. Vor der du abgehauen bist, sobald du die erste Gelegenheit dazu hattest. Sogar mir gegenüber warst du schon immer zu höflich, um mal zu sagen: ›Verpiss dich Lu! Du kekst mich an!‹ Meinst du, ich hab das nicht gemerkt, dass du mich manchmal lieber losgeworden wärest? Meinst du, es ist mir nicht aufgefallen, dass du hinter meinem Rücken mit deinen Freundinnen über mich gelästert hast, dass du es warst, die mir die Krabbeltiere in den Schlafsack gesteckt hat und die sauer war als ich dir zu deinem Einser in der Abi-Klausur verholfen habe, weil du die ganze Zeit kotzend auf dem Klo hingst? Meinst du, ich bin so unsensibel, dass ich das alles nicht mitbekommen habe, hä? Aber du hast nie was gesagt. Du sitzt nur da und lässt es über dich geschehen. Du denkst hundert Verwünschungen und Flüche, aber du lächelst. Du träumst dich an einen vollkommen anderen Ort, aber du bleibst. Und warum? Nur, weil du süchtig danach bist, dass alle dich lieben. Dabei musst du gar nichts dafür tun. Du bist schön, Emma. Alle lieben dich automatisch. Du musst sie dafür nicht anlügen.«
Als sie geendet hat, kann ich eine Weile lang gar nichts sagen.
Noch nie habe ich sie so erlebt.
Ehrlich gesagt, habe ich noch nie irgendjemanden so erlebt.
Ich habe das Gefühl, ich sitze nackt und entblößt vor ihr, und sie beschmeißt mich mit Schmutz. Ein grässliches Gefühl ist das. Aber noch schlimmer als dieses Gefühl ist das Wissen darum, dass es stimmt, was sie sagt. Ich habe den Dreck verdient, mit dem sie mich bewirft.
Sie hat es genau auf den Punkt gebracht. Ich bin so. Ich will es allen recht machen. Und zwar so sehr, dass ich lieber falsch und höflich bin, als ernsthaft meine Meinung zu vertreten, wenn mir jemand auf den Nerv geht.
Das ist eine feige, verräterische Haltung. Und ich schäme mich schlagartig so sehr, dass ich kaum wage, sie anzusehen.
Ich schäme mich, dass ich damals die anderen angestiftet habe, Spinnen und Kellerasseln zu sammeln. Ich schäme mich, dass ich meinen Eltern manchmal Lügen über Lu erzählt habe, nur damit sie nicht mehr in diesem wunderbaren Licht der springlebendigen, offenen, alle Herzen erobernden Freundin dastehen konnte. Ich schäme mich dafür, dass ich mir so sehnlich wünschte, sein zu können, wie sie war.
Und wie sie ist. Denn sie ist mir doch auch heute noch haushoch überlegen.
Sie ist diejenige, die lächelnd jede kleine Boshaftigkeit von mir erträgt. Eine gemeine Spitze kontert sie mit einem Grinsen. Ignoranz beantwortet sie mit Freundlichkeit. Und durch all diese Sachen ist sie hundertmal großherziger, ehrlicher und liebenswerter, als ich es je sein könnte. Ich kann meiner Teenagerfeindin Lucimar auch heute noch nicht das Wasser reichen.
Und das Allerfurchtbarste ist: Ich würde es so gern.
»Wenn du das alles wusstest«, höre ich mich da sagen. »Wenn dir das alles klar war, wieso hast du dann nie was gesagt?«
»Und dich damit endgültig vertrieben? Dich zu meiner offenen Feindin gemacht?«, erwidert Lu.
Ich verknote nervös die Hände. »Was hätte es dich gestört? Gut, wir wohnten direkt Tür an Tür, aber du brauchtest mich doch nicht. Du hast dich nie darum gekümmert, was andere denken. Wieso also hast du das alles ertragen?«
Ich hebe den Blick und sehe sie an. Sehe ihr mitten ins dunkelhäutige Gesicht. In ihre schwarzen Augen hinein, die meinen Blick erwidern. Und da weiß ich es.
Ich weiß mit einem Schlag, was sie sagen wird.
Der Schreck fährt mir so sehr in alle Glieder, dass er körperlich zu spüren ist.
Ich
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