Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
Vom Netzwerk:
wirkte, als würde dieser Mann, der solche Probleme damit hatte, seine Gefühle auszudrücken, ganz bewusst versuchen, ein Glücksgefühl zu vermitteln.
    Wir kamen unter die Bäume am Wiesenrain. Anfangs wuchsen sie noch dicht; der Boden war auch hier mir Gras bewachsen. Doch nach etwa zehn Metern wurde der Boden staubiger, die Bäume dünner und kleiner, und sie standen weiter auseinander. Hier blieb mein Vater stehen und sah sich um, als wollte er gar nicht weiter bis zum Fluss gehen. Er scharrte mit der Schuhspitze in dem trockenen Erdboden, dann ging er ein paar Schritte nach links, zu einem kleinen Loch, das jemand gegraben hatte. Stan und ich warteten darauf, dass er sich wieder in Bewegung setzen würde, doch er schien ganz in einem Tagtraum versunken zu sein, betrachtete das Loch und nickte vor sich hin. Stan hielt die hohlen Hände an den Mund. Er gab ein Geräusch von sich wie statisches Rauschen eines Funkgeräts.
    »Erde an Dad. Bitte melden!«
    Mein Vater hob den Kopf und kicherte und ging weiter. Zwanzig Meter weiter endete der Baumstreifen, und wir standen am Ufer des Swallow River.
    Der Swallow floss am südlichen Stadtrand von Oakridge unter einer Brücke hindurch und durch Hügel mit reichen Quarzadern, bis er in den mittleren Lauf des Yuba mündete. Er war nicht annähernd so groß wie die berühmten Flüsse aus der Zeit des Goldrausches, wie der American River oder der Feather River. Zu seiner Zeit jedoch schätzte man ihn wegen der nicht unerheblichen Vorkommen auf seiner gesamten Länge. Jetzt standen wir an der Innenseite einer Biegung seines Laufes, wo das Wasser flach und breit dahinströmte. Rechter Hand sah ich flussaufwärts den zerklüfteten Rand der Felswand am Ende der Wiese, die zwischen den Bäumen hindurch bis zum Ufer hinabführte.
    Stan ließ den Blick über den Fluss hin und her schweifen. »Ich weiß, wo wir sind, Dad. Das ist dein Foto, nicht? Das ist der Fluss auf dem Foto.«
    »Ganz recht, Stan.«
    »Ich wusste es. Cool.«
    Ich wusste, mein Vater besaß nicht genügend Geld, dass er einfach so aus Lust und Laune Land kaufen konnte, und mir kam der Gedanke, dass sein Geisteszustand nach einem Leben finanzieller Misserfolge und der alleinigen Verantwortung für Stan am Ende doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden sein könnte.
    »Was hast du mit dem großen Gelände vor? Getreide anbauen?«
    Mein Vater klopfte sich seitlich an die Nase. »Wirst schon sehen, John. Wirst schon sehen.« Er holte tief Luft und klatschte in die Hände. »Vergesst diesen Tag nicht, Jungs.«
    Wir folgten ihm unter den Bäumen zurück zu der Wiese, wo das Auto parkte. Als wir auf Höhe des Hauses anlangten, hörte ich Stan zischend einatmen. Zwei Leute saßen in der Nachmittagssonne auf der Veranda. Eine war die junge Frau aus seiner Tanzstunde. Er zupfte mich am Ärmel und flüsterte: »Das ist Rosie!«
    Die junge Frau sah Stan und hob die Hand zu einem halbherzigen Winken.
    »Du gehst besser zu ihr rüber, Alter.«
    »Aber was soll ich sagen?«
    »Du redest doch in der Tanzstunde mit ihr, oder nicht?«
    »Klar.«
    »Und?«
    »Kommst du mit?«
    Mein Vater ging ein Stück voraus. Er drehte sich um, als er unser Gespräch hörte. »Geht ihr zwei ruhig einen Moment rüber, wenn ihr wollt. Ich warte im Auto.«
    Die Dielen der Treppe zur Veranda hinauf waren alt und ausgetreten. In der Sonne gaben sie einen schwachen Papierduft ab, der die Kehle austrocknete. Rosie war aufgestanden. Neben ihr saß eine hagere Frau um die siebzig in einem Korbschaukelstuhl. Ihr graues Haar war lang und mit einem Bleistift zu einem Knoten hochgesteckt, der sich langsam auflöste; ihre Haut war sonnengebräunt und runzlig, doch ihre Augen wirkten noch stechend und klar, und man sah deutlich, dass sie in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein musste. Auf den Knien hatte sie einen leichten gehäkelten Schal liegen, über den sie mit den Fingern geistesabwesend eine kleine Sammlung von Halbedelsteinen hin und her schob.
    Rosie wippte leicht von einer Seite auf die andere und sah Stan an. Sie war barfuß und hatte Erde zwischen den Zehen. Am Körper trug sie noch dasselbe verblasste rosa Kleid, in dem sie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte.
    Die Frau lächelte uns zu und sagte Hallo. Stan hüstelte unsicher.
    »Äh, ich bin Stan. Ich bin mit Rosie im Tanzunterricht.«
    Die Frau nickte. »Ja, Rosie hat mir von dir erzählt. Ich bin Millicent Jeffries, Rosies Großmutter.«
    Stan hob rasch die Hand und grüßte Rosie.

Weitere Kostenlose Bücher