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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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auslieferte.
    Als ich für den Umschlag unterschrieben hatte, nickte er und sagte: »Zugestellt.«
    Da dämmerte mir, dass UPS vermutlich gar keine Subunternehmer beschäftigte.
    Ich wusste, was sich in dem Umschlag befand, ich hatte schon darauf gewartet. Plantasaurus hatte in den vergangenen Wochen nicht auf wundersame Weise Riesengewinne erwirtschaftet, und die Hypothek auf das Haus stand noch offen. Jetzt hielt ich das Ergebnis dieses Versäumnisses in Händen – die Androhung einer Räumungsklage und den Hinweis, dass die Bank das Recht hatte, eine Zwangsversteigerung in die Wege zu leiten. Sie gaben uns zwei Wochen, um auszuziehen.
    Als mir schien, es könnte so weit kommen, hatte ich mit Stan darüber geredet. Er hatte mehr als entsetzt darauf reagiert. In gewisser Weise glich er einem Blinden, der das Chaos der Welt nur überleben konnte, indem er sich ein kleines Stück davon abgrenzte und dessen Variablen nach und nach einschränkte, bis es so geordnet und überschaubar war, dass er darin existieren konnte. Wenn wir das Haus verloren, brachte ihn das um eine Umgebung, die nicht nur seit seiner Kindheit eine sichere Zuflucht für ihn gewesen war, sondern auch eine Brücke zu jener Zeit, bevor er sich verändert hatte, bevor der Sauerstoffmangel ihm einen Teil seiner Persönlichkeit genommen hatte.
    Ich blieb auf der Schwelle stehen, als der Kurier fort war. Der kleine Vorgarten wirkte durch die morgendlichen Geräusche – Vogelgezwitscher, ein Auto, das angelassen wurde, ein Kind, das irgendwo schrie – ringsum plötzlich kostbar, ein Ort, dessen wahre Bedeutung eben erst offenbart worden war. Ich stand da und hörte eine Weile zu, dann ging ich hinein und sagte es Stan.
    Er schwieg lange und betrachtete einfach nur die Küchenwände. Dann schlang er die Arme um sich und neigte sich ein wenig nach vorn.
    »Ich kann mir bestimmt nicht alles merken, Johnny. Wie kann ich alles in mir speichern, sodass es nicht verloren geht? Es ist zu viel.«
    »Du vergisst nicht alles.«
    »Aber bei manchen Sachen weiß ich nicht einmal, dass ich sie weiß. Im Moment fallen mir gerade keine ein, aber manchmal sehe ich etwas an, und dann fällt mir plötzlich ein, was passiert ist, was jemand gesagt hat oder was da gewesen ist. Wie ein Blitz. Wie kann ich das mit allem machen, bevor wir gehen?«
    Natürlich wäre es mir durchaus möglich gewesen, Stan diese Seelenqualen zu ersparen, ich hätte nur zum Telefon greifen und Empty Mile einem Makler anvertrauen müssen. Wenn dieses Land nicht ein Geheimnis umgeben hätte, wenn ich hätte sicher sein können, dass es sich um nichts als ein Stück Wiese und Wald handelte, dann hätte mich Stans Verzweiflung vermutlich dazu verleitet, es zu verkaufen, trotz meines Versprechens, das ich meinem Vater gegeben hatte. Aber ich wollte nicht glauben, dass Empty Mile nur das war, was es zu sein schien. In dem Fall hätte mein Vater es schlicht und einfach nicht gekauft.
    Auf der Suche nach einer Rechtfertigung dafür, dass ich Stan den Verlust des Hauses zumutete, weil ich das Land nicht verkaufen wollte, ging ich nach oben.
    Das Schlafzimmer meines Vaters war ein fremder Ort für mich. Als Kinder durften Stan und ich das Elternschlafzimmer ohne Erlaubnis nicht betreten. Wir waren keine Familie gewesen, in der man einfach bei den Eltern reinspazierte, aufs Bett hüpfte und eine samstagmorgendliche Kissenschlacht anfing. Dies war ausschließlich ihr Zimmer gewesen, und nach dem Tod meiner Mutter sein Zimmer. Es war ein düsterer Ort der Erwachsenengeheimnisse, der Blicke in Schränke voll mit Sachen, die man nie irgendwo anders sah – Schachteln mit Manschettenknöpfen, ein kleiner Stapel Bücher, die nie unten in das Regal gestellt wurden, ein Krawattenhalter, schemenhafte Kleidungsstücke hinter Schranktüren, die höchstens einen Spalt offen standen … Stan und ich hatten schweigend einige Minuten in dem Zimmer verbracht, als mein Vater verschwunden war, und es seither geflissentlich gemieden.
    Es stand ein Bett darin, eine Eichenkommode mit ein paar Erinnerungsgegenständen obendrauf, ein klobiger Holzschrank mit einem Spiegel in der mittleren Tür, ein abgewetzter Teppich, ein Nachttisch. Alles alt und dunkel. Und am Fußende des Bettes die Holztruhe, die mein Vater als Schüler in England gezimmert hatte und schon länger besaß, als ich am Leben war.
    Das war ein Art Tresor für ihn gewesen. Hier bewahrte er seine Fotografien, seine Dokumente, seine Briefe, private Kopien seiner

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