Empty Mile
gefickt hatte, ich hatte gesehen, wie er ein Kaninchen mit Pfeil und Bogen abgeschossen hatte und schreiend in der Nacht hatten verenden lassen, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, und ich wusste, nichts auf der Welt würde ihn aufhalten, bis er seine Rache vollendet hatte. Doch ich durfte nicht zulassen, dass er Stan das antat. Sein Traum durfte nicht wegen etwas zerstört werden, das ich getan hatte.
Es hatte keinen Sinn, Stan zu sagen, dass Jeremy Tripp Patricias Bruder war, sonst würde er sich noch mehr Sorgen um die Zukunft von Plantasaurus machen, daher erwähnte ich diese neue Erkenntnis nicht, als wir zur Blockhütte zurückkehrten. Aber Marla und ich sprachen im Bett darüber. Besser gesagt, ich sprach. Marla hörte nur zu, schnaubte ein paar Mal verächtlich, aber insgesamt kam es mir vor, als interessierte sie die Sache kaum. Schließlich sprach ich sie darauf an.
»Du scheinst nicht sehr besorgt zu sein.«
»Ich bin besorgt.«
»Aber du liegst da, als würde ich über Football reden.«
»Johnny, es ist nun mal passiert. Die Tatsache, dass er Pats Bruder ist, ändert nicht das Geringste.«
»Es ändert alles. Das heißt, er wird uns so lange zusetzen, bis wir völlig im Arsch sind.«
Marla holte tief Luft. »Vielleicht haben wir es verdient«, flüsterte sie. »Ich jedenfalls.«
»Wir haben das Video nicht gemacht. Wir
verdienen
gar nichts. Und Stan hat es ganz sicher nicht verdient, dass ihn irgendjemand leiden lässt. Wir müssen verhindern, dass Tripp noch mehr Schaden anrichtet.«
Marla schnaubte. »Der macht, was er will.«
»Nicht, wenn wir ihm den Grund nehmen, weshalb er es macht.«
»Wir können nicht ungeschehen machen, dass er das Video gesehen hat, Johnny. Wir können Pat nicht wieder lebendig machen.«
»Das weiß ich. Aber wir können ihm sagen, dass wir nichts damit zu tun hatten.«
»Viel Glück.«
»Ich habe die Halterungen.«
»Als ob ihn das überzeugen würde.«
»Du musst ihm sagen, dass Gareth dich zu der ganzen Sache gezwungen hat.«
»Das kann ich nicht.«
»Warum zum Teufel nicht? Erzähl ihm von Gareth, dann wird Gareth zu seiner Zielscheibe, nicht wir.«
»Gareth dreht durch.«
»Gareth ist schon durchgedreht.«
»Und er kann dem Stadtrat jederzeit von mir erzählen. Ich setze meinen Job
nicht
aufs Spiel, Johnny. Der Job ist das Einzige, was mir noch bleibt.«
»Gareth sagte, die Scheiße mit der Erpressung sei zu Ende.«
Marla sah mich traurig an und schüttelte den Kopf. »Bei Gareth ist nichts je zu Ende, bis ihn jemand tötet.«
»Tja, du hast gesehen, was mit diesem Kaninchen passiert ist. Vielleicht haben wir Glück.«
»Das ist kein Witz, Johnny.«
Ich sah in ihren Augen, wie viel Angst sie hatte, und einen Moment hatte ich das Gefühl, als läge hinter ihrem Gesicht ein riesiger dunkler See, eine große schwarze Fläche früherer Ereignisse, von denen ich rein gar nichts wusste.
»Ich weiß, dass es kein Witz ist. Aber wenn du nicht losgehst und eine Waffe kaufst, ist das unsere einzige Hoffnung, Jeremy Tripp loszuwerden. Wer weiß, was er als Nächstes vorhat? Wir müssen ihm Gareth ausliefern. Ich verstehe nicht, warum du das nicht willst.«
Marla sah mich eine Weile an, ohne etwas zu sagen, dann drehte sie sich um und zog die Decke über sich.
»Marla?«
»Ich möchte jetzt schlafen.«
Ich versuchte noch ein paar Mal, eine Antwort aus ihr herauszubekommen, aber sie schwieg und wandte mir den Rücken zu.
Am Morgen stand ich früh auf. Die Sonne schien zum Fenster herein, und ich war immer noch angespannt, weil ich zu ergründen versuchte, was mit Marla los war, warum sie mich in der Angelegenheit mit Gareth und Jeremy Tripp nicht unterstützte.
Die Tür von Stans Zimmer stand offen; er lag nicht im Bett. Ich ging hinaus, stand auf der Treppe und blickte über die Wiese. Die Sonne war schon aufgegangen, aber die Kühle der Nacht lag noch in der Luft. Von Rosies und Millicents Haus drang das kaum vernehmliche Geräusch eines Radios aus einem offenen Fenster heraus. Es war ein Sender für klassische Musik, die je nachdem, wie der Wind über das hohe Gras wehte, an- und abschwoll.
Ich bemerkte eine Bewegung am unteren Ende der Wiese. Stan und Rosie verschwanden gerade im Korridor der Bäume, der das Land vom Fluss abgrenzte. Ich hätte sie in Ruhe gelassen, damit sie das Abenteuer erleben konnten, das Stan sich für sie ausgedacht hatte, oder das Schäferstündchen bei Tagesanbruch, aber ehe sich die Zweige hinter ihnen
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