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Empty Mile

Empty Mile

Titel: Empty Mile Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Stokoe
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schlossen, sah ich, dass sie beide Handtücher bei sich trugen.
    Ich blieb ein paar Minuten stehen und fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Wasser, ein Handtuch, Stan … Am Ende ging ich die Treppe hinunter und über die Wiese.
    Ich verschwand an derselben Stelle zwischen den Bäumen wie Stan und Rosie und schlenderte zum Fluss. Als ich näher kam, ermöglichte es mir das hellere Licht jenseits der Bäume, trotz des funkelnden Wassers klar zu sehen. Ich erkannte die Umrisse zweier Menschen, die sich bewegten, aber vor dem grellen Hintergrund sah ich nicht, was genau sie machten. Ich legte die letzten paar Meter lautlos zurück und verbarg mich hinter einem Busch am Rand des Uferstreifens.
    Stan und Rosie standen Händchen haltend auf einem flachen Stein, der in das träge Wasser hineinragte. Beide waren nackt; in der Sonne leuchteten ihre Körper vor dem Hintergrund des dunkelgrünen Laubs am gegenüberliegenden Ufer. Seiner, glatt, beleibt und rundlich, in unerschütterlicher, breitbeiniger Haltung. Ihrer sehr schlank, mit einem so gekrümmten Rücken, dass es aussah, als wären ihre Brust und ihr Bauch etwas, das man aus einem umfangreicheren Leib geschnitzt hatte. Beide waren sehr blass, nur Arme und Hälse vom Sommer gebräunt.
    Das leise Plätschern des Wassers ertönte, doch der Fluss war auf der gesamten Länge von Empty Mile so breit, dass er nirgendwo schnell floss, daher hörte ich deutlich, was die beiden sprachen.
    Rosie hatte die Arme an den Seiten herabhängen und sah in das Licht auf dem Wasser. »Du musst das nicht machen«, sagte sie nach einer Weile.
    »Johnny fühlt sich mies, wenn nicht.«
    Stan rückte vor, bis seine Zehen über den Rand des Felsens ragten. Rosie ließ seine Hand los, machte einen Schritt vorwärts, drehte sich auf einem Fuß und ließ sich rückwärts in den Fluss fallen. Einen Moment später kam sie keuchend, nass und glänzend wieder hoch und rieb sich das dunkle Haar. Das Wasser reichte ihr bis zur Taille.
    »Ich hab mir den Kopf gestoßen.«
    Stan trat auf der Stelle und atmete schwer durch den Mund. Rosie streckte ihm eine Hand entgegen. Stan blieb ruhig stehen und drückte die Knie durch. Er holte tief Luft, kniff die Augen zu und erstarrte.
    »Alles wird gut«, sagte Rosie aus dem Wasser.
    Und Stan sprang von dem Felsen in den Fluss.
    Er sank bis zur Brust ein, fuhr aber sofort wieder hoch und riss Mund und Augen weit auf, als wäre das Wasser so kalt, dass er keine Luft mehr bekam. So verharrte er einen Moment, starr vor Schock, dann entspannte er sich, grinste, grinste, hörte gar nicht mehr auf zu grinsen und strich mit der flachen Hand über die Wasseroberfläche.
    »Mann.«
    Er sah Rosie an.
    »Mann.«
    Rosie sah an sich hinab, strich sich Wassertropfen von der Brust und sagte mit gesenktem Kopf: »Das fließende Wasser spült deine Gedanken fort.« Sie ging in die Knie, bis ihr das Wasser zum Hals reichte. »Dein Haar ist nicht nass.«
    Stan stellte sich unmittelbar vor sie und ging ebenfalls in die Hocke, bis nur noch sein Kopf über die Wasseroberfläche ragte. Er holte tief Luft, kniff sich die Nase zu, blies die Wangen auf und tauchte vollständig unter. Rosie folgte seinem Beispiel, und ich sah mehrere Sekunden nur die Wellen, wo ihre Köpfe gewesen waren. Ich dachte mir, sie würden lachen, wenn sie wieder auftauchten, aber sie lachten nicht. Sie verweilten im Fluss, wo das Wasser um ihre Schultern strömte, und sahen einander nur wortlos an. Stan streckte die Hand aus und strich Rosie über die Wange.
    Ich schlich mich rückwärts davon, bis sie mich ganz sicher nicht mehr sehen konnten, dann drehte ich mich um und lief, und als ich weit genug gekommen war, rannte ich so sehr, dass mir die Äste der Bäume die Kleidung zerrissen und die Haut zerkratzten. Auf der Wiese blieb ich keuchend im Sonnenschein stehen und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Ich war Zeuge eines großen Ereignisses geworden. Für Stan war das ein enormer Sprung nach vorn, und ich freute mich, dass er diese Leistung ins Granitantlitz des Lebens gemeißelt hatte. Aber die Sache hatte auch einen besorgniserregenden Aspekt. Denn er war nicht ins Wasser gesprungen, um einen beschädigten Teil in seinem Inneren zu reparieren, sondern um
mich
und die Schuldgefühle zu überwinden, die
ich
empfand, eine Schuld, durch die ich ihn, wie es schien, mit meinem eigenen Unglück ansteckte.
    Ich stapfte den Hang der Wiese hinauf. Erst als ich die Blockhütte fast erreicht hatte, bemerkte

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