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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claude Anet
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Timaki, vom Stamme der
Bären, sich eben ausgestreckt hatte. Hätte ihn nicht
der dunklere Fleck seiner kastanienbraunen Haare verraten, er
wäre in dem schwindenden Licht vom Boden, auf dem er mit
aufgestützten Ellbogen unbeweglich lauerte, nicht zu
unterscheiden gewesen. Sein Kopf war klein, seine Züge
regelmäßig, die Nase wohlgeformt, und aus einem von
Sonne und Wind gebräunten Antlitz blitzten helle Augen. So
harrte er lange Zeit unbeweglich wie ein Stein. Die Sterne, die
gleichen Sterne, die heute noch über unseren Köpfen
schimmern, leuchteten schon damals einer nach dem anderen und bald zu
Tausenden am Himmel auf. Die Luft wurde eisig. No schien es nicht zu
bemerken. Schlief er? Eine Maus, getäuscht von seiner
Reglosigkeit, huschte über ihn hinweg. Sie verweilte einen
Augenblick, um mit einem Stückchen Moos zu spielen. Bald
darauf hörte No ein leichtes Geräusch aus dem Loch
dringen. Er hielt seinen Atem zurück. Eine Schnauze zeigte
sich; beruhigt durch die Stille ringsum, kam endlich der ganze Kopf
hervor. Lebhafte kleine Augen durchforschten das Dunkel. Doch sie
konnten sich kaum einen Atemzug lang umsehen, denn schon fuhr die mit
einem behauenen Stein bewaffnete rechte Hand Nos auf den kleinen Kopf
nieder und zerschmetterte mit einem harten, wohlgezielten Schlag den
Schädel, während die linke Hand in nicht minder
rascher Bewegung das Tier, das sich im Verenden in die Tiefe seines
Loches hinabrollen ließ, festhielt.
    Jetzt sprang No mit einem Satz auf die Beine. Er
lächelte behaglich, während er seine Beute
prüfte. Es war ein wundervoller Zobelmarder, dessen Winterpelz
voll weicher, dichter Haare war. Mit dem langen, buschigen Schweif,
biegsam, als ob noch Leben in ihm wäre, koste No
zärtlich sein Gesicht. Dann drückte er das tote Tier
sanft an seine Wange und flüsterte:
    »Nicht ich war es, der dein Leben genommen hat, mein
Tierchen, es war der Stein. Es hat so sein müssen. Du
verstehst es. Doch sieh, wie ich dich behandle. Erzähle deinen
Brüdern davon, damit sie mich nicht fliehen.«
    Und er wiegte es in seinen Armen, wie ein weinendes Kind, das
man beruhigen will.
    Dann ging er mit großen Schritten dem Tale zu. Einen
Augenblick zeichnete sich seine Silhouette vom Gipfel des
Hügels gegen den sternbesäeten Himmel ab: die Gestalt
eines jungen Mannes von mehr als sechs Fuß Höhe,
breiten Schultern und schlanken Hüften. Seine Beine waren
lang, und sein Gang glich dem eines Tieres, das unermüdlich
mit gleichmäßig elastischen Sprüngen
über den Boden eilt. So verfolgte er seinen Weg bis zur
Einmündung eines Seitentales, das zum Flusse
hinunterführte.
    Hier blieb er stehen. Ein Hang, aus Felsbrocken gebildet, fiel
vor ihm zum Flusse ab, und drüben am anderen Ufer lag der
heilige Boden, den keiner, außer an den Tagen der
religiösen Feste, zu betreten wagte. Wohl hätte No
dem linken Ufer dieses Flusses folgen können, doch er war
jung, knapp achtzehn Jahre, und abergläubischer Schrecken
erfüllte seine Seele. Konnte er, ein Kind, wissen, wie man
sich gegenüber den unsichtbaren Mächten, die uns
umschleichen, zu verhalten hat? Noch war er in die Reihe der
Eingeweihten nicht aufgenommen, noch war er nicht im feierlichen Zuge
ins Innere jener Grotte geführt worden, die sich in den nahen
Felsen barg. Die bösen Geister, die die Gegend durchirren,
beunruhigten ihn mehr als alle wilden Tiere, denen er begegnen konnte.
So sprang er lieber den halben Abhang entlang über die Steine,
auch hier wohl darauf bedacht, alle Gebüsche, von denen
bekannt war, daß sie den Geistern zur Wohnung dienten, im
Bogen zu umgehen.
    Endlich stieg er doch ins Tal nieder, schritt noch etwa
fünfhundert Schritte dem Flußlauf entgegen,
durchquerte hier in einem kleinen Kahn, den er an einem Baum befestigt
fand, mit einigen Ruderschlägen das Wasser und landete auf dem
gegenüberliegenden Ufer unter einem vorspringenden Felsen, der
gegen Osten zu lag.
    Er kletterte durch das Geröll aufwärts, bis
er eine breite Terrasse erreicht hatte. Hier, unter dem Schutze eines
überhängenden Felsens, war die Nacht noch dunkler.
Sechs Feuer brannten mit ruhiger Flamme in
gleichmäßigen Abständen voneinander, und ihr
Lichtschein fiel auf ebensoviel Hütten, deren
Vorderwände in senkrechten Streifen mit lebhafter Farbe bemalt
waren. Alles andere verschwamm in der Finsternis. Überall
herrschte tiefe Ruhe. Bloß das leise Wimmern eines Kindes

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