Ende (German Edition)
entsorgen.»
«Auch wenn es komisch klingt», sagt María, «aber irgendwie finde ich es beruhigend, dass hier viele Geier sind. Dadurch ist das, was wir gerade erlebt haben, nicht so unheimlich.»
«Freu dich nicht zu früh», warnt Amparo, die sich von dem Schreck erholt hat. «Das dicke Ende kommt vielleicht noch. Wir wissen ja nicht, was uns dadrin erwartet.»
«Dickes Ende? Woran denkst du? An zerhackte, blutüberströmte Leichen?»
«Hört auf!» Maribel platzt der Kragen. «Ich begreife nicht, wie ihr darüber auch noch Scherze machen könnt! Ich seid vielleicht Idioten!»
«Das war kein Scherz», versichert Ibáñez. «Ich habe nur gesagt, was ich denke.»
«Dann halt beim nächsten Mal lieber die Klappe», schnauzt Amparo ihn an.
Plötzlich tritt Stille ein, alle Blicke richten sich auf die Tür. Seit sie ängstlich zurückgewichen sind, um den Geier vorbeizulassen, hat keiner mehr Anstalten gemacht, das Haus zu betreten.
«Tja, es hilft ja nichts, wir müssen da rein», sagt Ginés und setzt einen Fuß auf die erste Stufe. Dann fügt er wie zu sich selbst hinzu: «Stopp. Wir sollten erst klingeln. Und sei es, um …»
Er drückt die Klingel, aber nichts geschieht. Dann klopft er zwischen den Eisenstangen an die Scheibe und ruft: «Ist hier jemand?» Vorsichtig drückt er gegen die Tür, die mit einem leisen Quietschen nachgibt.
Sie kommen in eine kleine Diele, die auf eine in derselben Farbe wie die Wand gestrichene Nebentür zuführt. Links geht eine weitere, wesentlich größere Tür ab, der sich Ginés und die anderen automatisch zuwenden. Sie gelangen in ein Wohnzimmer, zumindest deuten der Tisch und die rustikalen Stühle auf ein Wohnzimmer hin, ebenso die altmodische Gasofenheizung mit dem schwarz verfärbten Gitternetz. Beim Eintreten hat Ginés instinktiv den Kopf eingezogen, denn das Haus scheint für Zwerge gebaut zu sein, vor allem was die Tür- und die Deckenhöhe betrifft. Trotz der Gardinen und Vergitterung ist der Raum hell, das große Fenster bietet einen weiten Blick über die Landschaft. Licht fällt auch durch ein kleines Fenster an der gegenüberliegenden Wand ein, das zu dem mit Büschen überwucherten Berghang geht. Obwohl es halb geöffnet ist, regt sich kein Lüftchen, ist es drinnen heißer als draußen. Eine wattige Stille lastet drückend auf dem Raum. Die dicken Mauern schirmen ihn von der Außenwelt ab, zu hören ist nur das Summen von Fliegen.
«Hier sind Fliegen», bemerkt Cova, als wäre ihr das unheimlich.
«Na und?», fragt Hugo.
«‹Ihr vertrauten, familiären Wesen voll rastloser Naschbegier›», beginnt Ibáñez zu zitieren, während sein Blick zerstreut durchs Zimmer wandert.
«Kein Wunder, dass hier Fliegen sind», sagt Maribel und deutet auf einen niedrigen Tisch neben dem Sofa. «Da ist ein halb aufgegessener Kuchen.»
Tatsächlich steht der Rest eines Schokoladenkuchens auf einer mit Silber beschichteten Pappscheibe, die wiederum auf der zerknitterten, mit den Initialen der Konditorei versehenen Verpackung liegt. Daneben befinden sich zwei Gläser: ein breites, rundes, halb gefüllt mit einer Flüssigkeit, die wie Coca-Cola aussieht; und ein hohes, schmales, das leer ist, aber einmal Bier enthalten zu haben scheint.
Das Sofa gehört zu einer Sitzgarnitur, die um den Tisch gruppiert ist. An der Wand steht ein Regal, in dem neben Porzellanfiguren und alten Videokassetten der nicht besonders große und auch nicht besonders moderne Fernseher auffällt. Rechts neben dem Regal befindet sich ein Kamin, davor ein ordentlich geschichteter Stapel Holzscheite, der den Ruß an der Wand verdeckt. Um den Kamin herum sind in einem zwei Meter großen Rechteck Steine in den Zement eingelassen, ein plumper Versuch, eine typische Pyrenäenmauer nachzuahmen.
«Schaut mal», sagt Nieves, «auch auf dem Sofa sind Kuchenreste.»
«Das sind doch nur Krümel», findet Amparo.
«Nein, da liegt auch ein größeres Stück», widerspricht ihr María und geht vor dem Sofa in die Hocke. «Und auf dem Boden auch. Merkwürdig!»
«Das hat wahrscheinlich der Geier angerichtet», mutmaßt Maribel. «Jetzt wissen wir auch, was er hier im Haus wollte.»
«Hoffentlich», sagt María und legt das Stück Kuchen angeekelt zurück auf das Sofa.
«Was meinst du mit hoffentlich?», will Maribel wissen, fällt sich dann aber selber ins Wort und ruft: «Seht mal da! Eine Uhr!»
Die Uhr steht im Regal neben billigen Glasfigürchen. Es ist ein kleiner Nachttischwecker, dessen
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