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Ende (German Edition)

Ende (German Edition)

Titel: Ende (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Monteagudo
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Ziffernblatt von zwei Voluten aus falschem Gold umrahmt wird.
    «Und sie ist analog!», ruft Ginés. «Dann ist es jetzt zehn vor eins.»
    «Zehn vor eins?», zweifelt Hugo.
    «Vorausgesetzt, sie funktioniert», sagt Ginés. «Tut sie aber nicht. Der Sekundenzeiger bewegt sich nicht.»
    «Dann muss sie um zehn vor eins stehengeblieben sein», schlussfolgert Cova mit verlorenem Blick, als hätte sie gerade eine Erleuchtung gehabt. «Zu dem Zeitpunkt also, als der Strom ausfiel.»
    «Stimmt», bestätigt Ginés.
    «So früh war das?», fragt Amparo.
    «Es kommt einem nur so früh vor», erklärt Nieves, «weil es gestern so schnell dunkel wurde, wegen der vielen Wolken.»
    «‹… der Kindheit, die mählich reift, meiner goldnen Jugendjahre …›», rezitiert Ibáñez seelenruhig, während er mit den Fingern über die Steine fährt, die rund um den Kamin in die Wand eingelassen sind.
    «Was redest du da für einen Quatsch?», fragt Amparo.
    «Das ist kein Quatsch», erwidert Hugo, der sich dem Fernseher zugewandt hat, verächtlich, «das ist ein Gedicht.»
    «So kitschig, wie das eingerichtet ist, müsste hier doch auch eine Kuckucksuhr zu finden sein», überlegt María. «Dann wüssten wir wenigstens, wie spät es ist.»
    «Werden Kuckucksuhren nicht mit Batterien betrieben?», fragt Maribel.
    «Nein, mit Gewichten», erläutert María. «Hast du das noch nie gesehen? Die Dinger, die aussehen wie Tannenzapfen?»
    «Hier sind zwei Türen.»
    Alle verstummen. Tatsächlich hat das Wohnzimmer neben der Haupttür noch zwei Nebentüren, die beide geschlossen sind. Die Tür an der linken Wand – wenn man zum Kamin sieht – hat einen großen bernsteinfarbenen Glaseinsatz; die andere ist aus Holz oder soll vielmehr wie aus Holz wirken, denn die cremebraune Maserung ist aufgemalt.
    Ibáñez, dem das Gedicht nicht aus dem Kopf geht, rezitiert in das Schweigen hinein:
    «‹… verfolgt, gejagt aus Liebe zu dem, was fliegt …›»
    Seine Diktion ist schlampig, den Blick hält er starr auf die Tür mit der falschen Maserung gerichtet, die zwei Meter von ihm entfernt ist.
    Hugo ist zu der Tür mit dem Glaseinsatz gegangen. Er dreht den Knauf und öffnet sie erst einen Spaltbreit, dann ein Stückchen weiter, und späht hinein.
    «Hier ist die Küche. Keiner da», erklärt er, macht die Tür ganz auf und tritt ein.
    Die anderen interessiert mehr, was sich hinter der zweiten Tür verbirgt. Einige haben sich kurz zu Hugo umgedreht, sehen jetzt aber wieder gespannt auf die künstliche Maserung, die sie einerseits hypnotisch anzuziehen, andererseits festzuwurzeln scheint. Wieder ist Ginés derjenige, der die Initiative ergreift und auf die Tür zugeht. Wieder ist die Stille erdrückend, brummen die Fliegen.
    «‹… Ich weiß es, ihr setztet euch … über den Schmöker, besetztet gleich …›», zitiert Ibáñez. Die anderen beachten ihn kaum, sehen wie gebannt auf Ginés. Der streckt die Hand in Richtung Türgriff.
    «‹… den Liebesbrief, ihr Gelichter …›»
    «Es reicht!», schreit Ginés plötzlich, sodass alle erschrecken. «Hör auf damit.» Er dreht sich zu Ibáñez um und wirft ihm einen bösen Blick zu, der den anderen übertrieben erscheint. «Hör endlich auf.»
    «Sollten die Besitzer geschlafen haben, sind sie jetzt garantiert wach.»
    Amparos Bemerkung entschärft die Situation. Wieder tritt Stille ein, wieder richten sich alle Blicke auf die Tür. Ginés dreht am Knauf, das Schloss schnappt mit einem metallischen, vom Holz gedämpften Klicken auf. Trotzdem zucken einige zusammen, als hätte man sie mit der Nadel gepikt. Wie in Zeitlupe beginnt Ginés die Tür zu öffnen, hält jedoch schamerfüllt inne, als er durch den Spalt ein ungemachtes Bett erspäht.
    «Was ist?», flüstert Cova. Sie sieht nichts, weil die anderen auf Zehenspitzen stehen. Außerdem dreht sie sich immer wieder um, um zu schauen, ob Hugo aus der Küche kommt.
    Aber Hugo kommt nicht, und eine Antwort erhält sie auch nicht. Schließlich ergreift Ginés das Wort und redet wie ein Chirurg, der seinen Assistenten mitteilt, was er als Nächstes tun wird.
    «Da steht ein Bett. Ich seh mal nach, ob …»
    Durch den Spalt sieht man lediglich ein Stück vom Fußende des Betts, eine zerwühlte Decke, unter der Laken hervorschauen. Ginés macht die Tür etwas weiter auf. Immer mehr von dem Laken wird sichtbar, immer mehr vom Doppelbett. Weil Ginés aber nur das halbe Bett überblicken kann, schiebt er seine Schultern durch den Spalt und

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