Enders Schatten
hatte keinen Sinn, Volescu erneut zu befragen, nicht, nachdem er sie beim ersten Mal so angelogen hatte. All dieses Gerede von Kopien und ihm als Original â dafür gab es nun keine mildernden Umstände mehr. Er war ein Mörder, ein Diener des Vaters der Lügen. Er würde nichts tun, um Schwester Carlotta zu helfen. Sie wollte immer noch herausfinden, was von dem einzigen Kind zu erwarten war, das Volescus privatem Holocaust entgangen war, aber auf das Wort eines solchen Mannes würde sie sich nicht noch einmal verlassen.
AuÃerdem musste Volescu mit seinem Halbruder oder Vetter in Verbindung gestanden haben â woher sonst sollte er ein befruchtetes Ei mit dessen DNS haben? Also dürfte es Schwester Carlotta nicht sonderlich viel Mühe bereiten, Volescus Spur zu folgen.
Sie erfuhr rasch, dass Volescu der uneheliche Sohn einer in Budapest lebenden Rumänin war. Ein paar Nachforschungen und die fleiÃige Benutzung ihrer Sicherheitsfreigabe verschafften ihr den Namen des Vaters, eines griechischen Funktionärs in der Liga, den man vor kurzem zum Dienst im Stab des Hegemonen befördert hatte. Das hätte sich vielleicht als Sackgasse erwiesen, aber Schwester Carlotta brauchte schlieÃlich nicht mit dem GroÃvater zu sprechen. Sie musste nur wissen, wer er war, um die Namen seiner drei ehelichen Kinder zu erfahren. Die Tochter konnte sie ausschlieÃen, weil sie nach einem männlichen Elternteil suchte. Und was die beiden Söhne anging, so beschloss sie, als Erstes den verheirateten aufzusuchen.
Julian und Elena Delphiki lebten auf der Insel Kreta, wo Julian eine Softwarefirma betrieb, deren einziger Kunde die Internationale Verteidigungsliga war. Das war offenbar kein Zufall. Aber verglichen mit dem ganz offenen Hin und Her von Schmiergeldern und Gefälligkeiten in der Liga erschien Nepotismus schon beinahe ehrenhaft. Langfristig war solche Korruption harmlos, da die IF sich schon bald die Herrschaft über ihr eigenes Budget verschafft und nie wieder zugelassen hatte, dass die Liga es anrührte. Auf diese Weise hatten der Polemarch und der Strategos viel mehr Geld zur Verfügung als der Hegemon, der zwar dem Titel nach der Erste war, aber nicht, wenn es um wirkliche Macht und unabhängige Entscheidungen ging.
Und selbst wenn Julian Delphiki seine Karriere den politischen Verbindungen seines Vaters verdankte, bedeutete das nicht unbedingt, dass das Produkt seiner Firma nicht adäquat und er selbst kein ehrlicher Mann gewesen wäre. Zumindest nicht nach den MaÃstäben von Ehrlichkeit, die im Geschäftsleben herrschten.
Schwester Carlotta stellte fest, dass sie keine Sicherheitsfreigabe brauchte, um sich mit Julian und seiner Frau Elena zu treffen. Sie rief an und erklärte, sie würde gerne in einer Angelegenheit der IF mit ihnen sprechen, und die beiden baten sie sofort zu sich.
Von Knossos aus lieà sich Schwester Carlotta zum Heim der Delphikis auf einem Felsvorsprung über der Ãgäis bringen. Das Paar wirkte nervös â Elena war beinahe verzweifelt und wrang ein Taschentuch.
»Bitte«, sagte Schwester Carlotta, nachdem sie das Angebot von Obst und Käse angenommen hatte, »bitte sagen Sie mir, wieso Sie so aufgeregt sind. Es gibt nichts an meinem Besuch hier, das Sie beunruhigen sollte.«
Die beiden schauten einander an, und Elena errötete. »Dann ist mit unserem Jungen alles in Ordnung?«
Einen Augenblick lang fragte sich Schwester Carlotta, ob sie bereits von Bean wussten â aber wie hätte das sein können?
»Ihr Sohn?«
»Dann geht es ihm gut!« Elena brach in Tränen der Erleichterung aus, und als ihr Mann sich neben sie kniete, klammerte sie sich an ihn und schluchzte.
»Sie müssen wissen, dass es uns sehr schwergefallen ist, ihn gehen zu lassen«, bekannte Julian. »Als deshalb eine Nonne zu uns kam und sagte, sie müsse uns in einer Angelegenheit der IF sprechen, dachten wir â wir haben den Schluss gezogen ⦠«
»Oh, es tut mir so leid. Ich wusste nicht einmal, dass Sie einen Sohn beim Militär haben, sonst hätte ich Ihnen von Anfang an versichert, dass ⦠aber nun fürchte ich, dass ich unter falschen Voraussetzungen hier bin. Die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen muss, ist privat, so privat, dass Sie sich vielleicht weigern werden zu antworten. Aber sie ist für die IF tatsächlich von einiger Wichtigkeit. Ich verspreche
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