Enders Schatten
zufällige Erinnerungs- und Fantasiefetzen, die das Unterbewusstsein zu zusammenhängenden Geschichten zu formen versucht. Bean achtete kaum auf seine Träume, er erinnerte sich selten daran, dass er überhaupt geträumt hatte. Aber an diesem Morgen erwachte er mit einem klaren Bild im Kopf.
Ameisen, die aus einem Riss im Bürgersteig schwärmten, kleine schwarze Ameisen und gröÃere rote, die sich ihnen entgegenstellten und sie töteten. Dann huschten sie weiter. Keine blickte auf und sah den Menschenschuh, der sich herabsenkte, um sie zu zerquetschen.
Als der Schuh wieder hochkam, klebten daran keine Ameisenleichen. Es waren die Leichen von Kindern, den StraÃenkindern aus Rotterdam. Achillesâ ganze Familie. Bean selbst â er erkannte sein Gesicht, das über seinem platt getretenen Körper aufstieg und sich vor dem Tod noch ein letztes Mal die Welt ansah.
Ãber ihm schwebte immer noch der riesige Schuh, der ihn getötet hatte. Aber nun umgab er das Ende eines Schabenbeins, und die Schabe lachte und lachte.
Als Bean aufwachte, erinnerte er sich an die lachende Schabe, und er hatte wieder den Anblick dieser zertretenen Kinder und den seines Körpers vor sich, der wie Kaugummi an einem Schuh klebte. Die Bedeutung war offensichtlich: Während wir Kinder hier Krieg spielen, kommen die Schaben, um uns zu zerschmettern. Wir müssen über unsere privaten Streitigkeiten hinwegsehen und den gröÃeren Feind im Auge behalten.
Nur, dass Bean diese Interpretation seines Traumes sofort wieder verwarf. Träume haben keine Bedeutung, ermahnte er sich. Und selbst wenn sie etwas bedeuten, geht es dabei um das, was man persönlich empfindet, was man befürchtet, und nicht um eine tiefere Wahrheit. Also gut, die Schaben kommen. Und sie können uns alle zertreten wie Ameisen. Was bedeutet das für mich? Im Augenblick besteht meine Aufgabe vor allem darin, Bean am Leben zu erhalten und in eine Position zu gelangen, wo ich im Krieg gegen die Schaben nützlich sein kann. Im Augenblick kann ich nichts weiter tun, um sie aufzuhalten.
Bean zog folgende Lehre aus seinem Traum: Sei keine der huschenden, kämpfenden Ameisen.
Sei der Schuh.
Schwester Carlotta war bei ihrer Suche im Netz in eine Sackgasse geraten. Es gab viele Informationen über genetische Forschung, aber nirgends fand sie das, wonach sie suchte.
Also saà sie da und spielte mit einem Briefbeschwerer, während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, und sich fragte, wieso es sie überhaupt interessierte, wo Bean herkam, als die Nachricht von der IF eintraf. Sie wusste, dass die Nachricht sich eine Minute nach dem Eintreffen selbst löschen und dann nach Pausen von jeweils einer Minute wieder abgeschickt werden würde, bis der Empfänger sie las. Deshalb gab sie rasch ihr erstes und zweites Passwort ein und öffnete die Datei.
Von: Col.Graff@Kampfschule. IF
An: Ss.Carlotta@spec ASN .RemCon. IF
Betreff: Achilles
Bitte alle Informationen über »Achilles«, die dem Subjekt bekannt sind, weiterleiten.
Wie gewöhnlich war die Nachricht so kryptisch, dass sie eigentlich nicht kodiert zu werden brauchte, obwohl sie es selbstverständlich gewesen war. Dabei war der Datenweg gesichert, oder? Warum benutzte er also nicht einfach den Namen des Jungen? »Bitte alle Informationen über âºAchillesâ¹, die Bean bekannt sind, weiterleiten.«
Irgendwo hatte Bean den Namen Achilles erwähnt, und auf eine Weise, dass sie ihn nicht direkt danach fragen wollte. Also musste es bei etwas gewesen sein, was er geschrieben hatte. Ein Brief an sie? Sie verspürte so etwas wie Hoffnung, und dann schnaubte sie höhnisch. Sie wusste genau, dass Briefe von den Kindern in der Kampfschule so gut wie nie weitergeleitet wurden, und auÃerdem bestand wohl kaum eine Chance, dass Bean tatsächlich an sie schrieb. Aber sie waren irgendwie an den Namen gekommen und wollten nun von ihr erfahren, was er bedeutete.
Das Problem war, dass sie ihnen diese Informationen nicht geben wollte, ohne zu wissen, was das für Bean bedeuten würde. Also bereitete sie eine ebenso kryptische Antwort vor:
Werde nur in gesicherter Konferenz antworten.
Selbstverständlich würde das Graff ärgern, aber das wäre nur von Vorteil. Graff war so daran gewöhnt, weit über seinen Rang hinausgehende Macht zu haben, dass es ihm guttäte, einmal daran erinnert zu werden, dass aller
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