Enders Schatten
haben Heimweh, erkannte Bean. Sie sind zum ersten Mal von Mama und Papa getrennt, und es macht sie traurig.
Bean begriff das nicht. Er hatte niemanden, für den er so empfand. Man lebte einfach an dem Ort, an dem man war, und machte sich keine Gedanken darüber, wo man früher gewesen war oder gerne wäre; hier ist, wo du bist, und hier musst du eine Möglichkeit zum Ãberleben finden, und im Bett liegen und flennen hilft dabei überhaupt nicht.
Aber mir kann es ja gleich sein. Ihre Schwäche ist nur ein Vorteil für mich. Jede Heulboje ist ein Rivale weniger auf dem Weg, Kommandant zu werden.
Dachte Ender Wiggin darüber genauso? Bean erinnerte sich an alles, was er bisher über Ender erfahren hatte. Der Junge war findig. Er legte sich nicht offen mit Bonzo an, aber er lieà sich auch die dummen Entscheidungen nicht gefallen. Das war faszinierend für Bean, denn auf der StraÃe war eine der wichtigsten Regeln gewesen, den Kopf nicht vorzurecken, wenn man nicht wollte, dass einem die Kehle durchgeschnitten wurde. Wenn man einen dummen Bandenboss hatte, sagte man ihm nicht ins Gesicht, dass er dumm war, man zeigte ihm nicht, dass er dumm war, man machte einfach weiter mit und zog den Kopf ein. So überlebten die Kids.
Wenn es sein musste, war Bean ein Risiko eingegangen. Auf diese Weise war er in Pokes Bande gelangt. Aber da war es um Essen gegangen. Es war darum gegangen, nicht zu sterben. Warum ging Ender ein solches Risiko ein, wenn nichts anderes auf dem Spiel stand als seine Stellung bei diesem Kriegsspiel?
Vielleicht wusste Ender etwas, das Bean nicht wusste. Vielleicht gab es einen Grund, wieso das Spiel wichtiger war, als es den Anschein hatte.
Oder vielleicht war Ender auch eins von diesen Kindern, die es nicht ertragen konnten zu verlieren. Die Art von Kind, das für ein Team ist, aber nur so lange, wie das Team es dorthin bringt, wo es hinwill, und wenn das vorbei ist, heiÃt es wieder, jeder für sich. Das dachte Bonzo von ihm. Aber Bonzo war ja auch dumm.
Wieder wurde Bean daran erinnert, dass es Dinge gab, die er nicht verstand. Bei Ender war nicht jeder auf sich gestellt. Er übte nicht allein. Er übte in seiner Freizeit mit anderen Kindern. Sogar mit Frischlingen, nicht nur mit Kids, die etwas für ihn tun konnten. War es möglich, dass er es nur deshalb tat, weil er einfach anständig war?
So, wie Poke sich Achilles angeboten hatte, um Bean das Leben zu retten?
Nein, Bean wusste nicht, dass sie das getan hatte, er wusste nicht, dass sie deshalb gestorben war.
Aber die Möglichkeit bestand. Und tief in seinem Innern glaubte er es. Das hatte er immer an ihr verachtet. Sie hatte sich hart gegeben, aber ein weiches Herz gehabt. Und dennoch ⦠Diese Weichheit hatte ihm das Leben gerettet. Und sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht überwinden, diese »Das war eben ihr Problem«-Haltung einzunehmen, die auf der StraÃe vorherrschte. Sie hat mir zugehört, als ich mit ihr gesprochen habe, sie hat etwas Schwieriges getan, hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt für eine Möglichkeit, ein besseres Leben für ihre ganze Bande zu erreichen. Dann hat sie mir einen Platz an ihrem Tisch angeboten, und am Ende hat sie sich zwischen mich und die Gefahr gestellt. Warum?
Was war dieses groÃe Geheimnis? Wusste Ender die Antwort? Wie hatte er sie erfahren? Wieso konnte Bean es nicht herausfinden? Sosehr er sich auch bemühte, er verstand Poke nicht. Er verstand auch Schwester Carlotta nicht. Er verstand nicht, dass sie ihn in den Armen gehalten hatte, nicht die Tränen, die sie seinetwegen vergossen hatte.
Begriffen sie denn nicht, dass er, egal wie sehr sie ihn liebten, immer noch eine von ihnen getrennte Person war? Und Bean etwas Gutes zu tun, verbesserte ihr Leben um keinen Deut.
Wenn Ender diese Schwäche hat, will ich nicht sein wie er. Ich werde mich für niemanden opfern. Und der Anfang davon ist, dass ich mich weigere, im Bett zu liegen und um Poke zu weinen, die dort drauÃen mit aufgeschlitzter Kehle im Wasser treibt, oder zu flennen, weil Schwester Carlotta nicht nebenan schläft.
Er wischte sich die Augen, drehte sich um und zwang seinen Körper, sich zu entspannen und einzuschlafen. Einen Augenblick später fiel er in diesen leichten, leicht zu unterbrechenden Schlaf. Sein Kissen würde schon lange vor dem Morgen wieder trocken sein.
Er träumte, wie Menschen immer träumen â
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