Enders Schatten
für die Sünden gestorben. Wir arbeiten daran, die Konsequenzen der Sünden für andere Menschen zu bereinigen.«
»Ein interessanter religiöser Auftrag«, lachte Anton. »Ich frage mich, ob meine alte Forschungsrichtung als Dienst an der Menschheit betrachtet worden wäre oder nur als ein weiteres Durcheinander, das jemand wie Sie bereinigen müsste.«
»Das frage ich mich selbst«, meinte Schwester Carlotta.
»Wir werden es wohl nie erfahren.« Sie schlenderten aus dem Garten in die Gasse hinter dem Haus, dann überquerten sie die StraÃe und betraten einen Pfad, der in einen verwilderten Park führte.
»Die Bäume hier sind sehr alt«, stellte Schwester Carlotta fest.
»Wie alt sind Sie, Carlotta?«
»Objektiv oder subjektiv?«
»Halten Sie sich bitte an den gregorianischen Kalender in seiner neuesten Version.«
»Dieser Wechsel vom julianischen System setzt den Russen immer noch schwer zu, wie?«
»Es hat uns mehr als sieben Jahrzehnte lang gezwungen, eine Oktoberrevolution zu feiern, die eigentlich im November stattgefunden hat.«
»Sie sind viel zu jung, um sich noch an die Zeit zu erinnern, als es Kommunisten in Russland gab.«
»Im Gegenteil, ich bin alt genug, um alle Erinnerungen meines Volkes in meinem Kopf zu bewahren. Ich erinnere mich an Dinge, die lange vor meiner Geburt geschehen sind. Ich erinnere mich an Dinge, die überhaupt nicht geschehen sind. Ich lebe in Erinnerungen.«
»Ist das ein angenehmer Aufenthaltsort?«
»Angenehm?« Er zuckte mit den Achseln. »Ich lache, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Weil es so bittersüà ist â all die Tragödien, und wir haben nichts daraus gelernt.«
»Weil sich die Menschen nicht ändern.«
»Ich habe mir vorgestellt«, erwiderte er, »was Gott hätte besser machen können, als er die Menschen schuf â nach seinem eigenen Abbild, glaube ich.«
»Er hat Männer und Frauen geschaffen. Wahrscheinlich, indem er sein Bild anatomisch ein bisschen vage gestaltete.«
Er lachte und tätschelte ihr ein wenig zu fest den Rücken. »Ich wusste nicht, dass Sie über solche Dinge lachen können! Ich bin angenehm überrascht.«
»Es freut mich, ein wenig Fröhlichkeit in Ihre trostlose Existenz bringen zu können.«
»Und dann schlagen Sie einem den Haken ins Fleisch.«
Sie erreichten einen Aussichtspunkt, von dem aus der Blick aufs Meer eher schlechter war als von Antons Terrasse. »Es ist keine trostlose Existenz, Carlotta. Ich kann Gottes groÃen Kompromiss feiern, der uns Menschen so gemacht hat, wie wir sind.«
»Kompromiss?«
»Unsere Körper könnten ewig leben. Wir müssen uns nicht entkräften. Unsere Zellen sind alle lebendig; sie können sich erhalten und reparieren oder durch frische ersetzt werden. Es gibt sogar Mechanismen, um unsere Knochen zu erneuern. Die Wechseljahre bräuchten eine Frau nicht davon abzuhalten, weiter Kinder zu bekommen. Unser Gehirn bräuchte nicht zu verfallen, nicht Eindrücke zu vergessen oder bei der Aufnahme neuer zu versagen. Aber Gott hat uns mit eingebautem Tod erschaffen.«
»Sie klingen allmählich so, als würden Sie Gott ernst nehmen.«
»Gott hat uns mit eingebautem Tod erschaffen, und auch mit Intelligenz. Wir haben unsere siebzig Jahre oder so â vielleicht neunzig, wenn wir vorsichtig sind, und in den georgischen Bergen werden einige angeblich sogar bis zu hundertdreiÃig Jahre alt, obwohl ich persönlich glaube, dass sie alle Lügner sind. Diese Georgier würden behaupten, unsterblich zu sein, wenn sie glaubten, sie könnten damit durchkommen. Aber wir könnten ewig leben, wenn wir bereit wären, die ganze Zeit dumm zu sein.«
»Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass Gott zwischen Langlebigkeit und Intelligenz für die Menschen wählen muss?«
»Es steht in Ihrer Bibel, Carlotta. Zwei Bäume â Erkenntnis und Leben. Man isst vom Baum der Erkenntnis und wird mit Sicherheit sterben. Man isst vom Baum des Lebens und bleibt ein unsterbliches Kind, für immer im Garten Eden.«
»Sie sprechen in theologischen Begriffen, aber ich dachte, Sie wären ein Ungläubiger.«
»Theologie ist ein Witz für mich. Amüsant! Ich lache darüber! Ich kann amüsante Geschichten über Theologie erzählen und mit Gläubigen scherzen. Sehen Sie? Es erfreut
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